niederrheinisch - nachhaltig 

Donnerstag, 6. Dezember 2018

„No free lunch“ – Globale Gesundheit und das „Weniger ist manchmal mehr“

v.l.: Herbert Hochheimer, Dr. Ralph Thoms, Dr. Charles K.Ntuité

Das Jahr 2018 ist reich an Jubiläen. Eines davon war am 7. April. Da stand der offizielle 70. Geburtstag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Kalender. Ihr Ziel: das bestmögliche Gesundheitsniveau bei allen Menschen. Und dies „bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung“. So steht es bis heute im dritten Absatz der WHO-Verfassung. Auch die beliebte Frage „Was heißt eigentlich Gesundheit?“ hat die WHO in ihrer Verfassung definiert: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Wer Bilder aus afrikanischen Krankenhäusern sieht oder sich bei den „Ärzten ohne Grenzen“medico international oder bei der von Tönisvorst aus agierenden action medeor informiert, weiß, dass das Grundrecht auf Gesundheit tagtäglich massiv verletzt wird. Auch bei der bundesdeutschen Luft- und Wasserreinhaltepolitik kommen mittlerweile Zweifel auf, ob diesem menschlichen Grundrecht immer die oberste Priorität jeder politischen Entscheidung zukommt. Dass die allumfassende Gesundheitsdefinition der WHO für den Alltag „vor Ort“ - im niederrheinischen Grenzland oder in Kinshasa - nicht ohne Probleme ist, machte der VHS-Grenzlandgrün-Abend zur globalen Gesundheit deutlich. 

WHO, Ärzte und ihre Visionen 

Die Weltgesundheitsorganisation wurde immer wieder wegen ihrer angeblich unrealistischen Visionen gescholten. Seien es ihre 1946 erarbeiteten und 1948 in Kraft getretenen Verfassungsgrundsätze oder grundlegende Deklarationen wie die von Alma Ata (1978) oder die Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung (1986): die dort hinterlegten Forderungen nach Frieden, stabilen Ökosystemen, menschlicher Autonomie und einer gerechten Weltwirtschaftsordnung als Voraussetzung des menschlichen Wohlergehens gelten vielen Entscheidungsträgern als illusionär und visionär. Doch auch in den Zielen und Vorgaben der Weltnachhaltigkeitagenda vom 1. September 2015 teilen die Staatenlenlenker aller Nationen dieser Erde diese Vision: Diese Ziele und Zielvorgaben sind Ausdruck einer äußerst ambitionierten und transformativen Vision. Wir sehen eine Welt vor uns, die frei von Armut, Hunger, Krankheit und Not ist und in der alles Leben gedeihen kann. Eine Welt, die frei von Furcht und Gewalt ist.“ [..] „Wir sind entschlossen, die Menschheit von der Tyrannei der Armut und der Not zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu schützen. Wir sind entschlossen, die kühnen und transformativen Schritte zu unternehmen, die dringend notwendig sind, um die Welt auf den Pfad der Nachhaltigkeit und der Widerstandsfähigkeit zu bringen. Wir versprechen, auf dieser gemeinsamen Reise, die wir heute antreten, niemanden zurückzulassen.“ 

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ – diesen viel zitierten Satz Helmut Schmidts drehte „VHS-Grenzlandgrün“ um, lud drei Ärzte zum VHS-Hausbesuch ein und fragte: Welche Visionen hat der Arzt? Im Rahmen der Reihe „Neuland globale Nachhaltigkeit“ diskutierten die Ärzte Herbert Hochheimer, Dr. Charles K. Ntuité und Dr. Ralph Thoms unter der Leitfrage „Wirtschaft, Ethik und Gesundheit“ – Krankheiten als Wachstumsmotor?“ 

WHO-Deklarationen und der finanzmarktgetriebene Kapitalismus sind globale Geschwister, die sich auf den ersten Blick nicht gut vertragen. Umso spannender ist die Frage, wie dieser Widerspruch in der globalen Nachhaltigkeitsagenda aufgelöst wird. Wie stehen die Ziele Nr. 8 und Nr. 3 zueinander: „Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.“ Und „Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten“? 

„Es fehlt an allen Ecken und Enden“

© Leroy Skalstad - pixabay.com

Bei den Unterzielen zum Nachhaltigkeitsziel Nr. 3 geht es unter anderem darum, die Mütter- und Kindersterblichkeit zu verhindern, Aids-, Tuberkulose- und Malariaepidemien und die vernachlässigten Tropenkrankheiten zu beseitigen und Hepatitis, durch Wasser übertragene Krankheiten und andere übertragbare Krankheiten zu bekämpfen. 

Dr. Charles K. Ntuité arbeitet als Internist in Viersen, ist Mitglied des Forums Eine Welt in Viersen und Gründer des Vereins „SOS-Re.De.Co“, der mit seinem Konzept medizinische und ärztliche Hilfe im Kongo leisten möchte. Zu den typischen afrikanischen Krankheiten zählt Dr. Ntuité Infektionskrankheiten wie Tuberkulose an Lungen, Lymphknoten oder Knochen, Hepatitis A bis E, AIDS-Erkrankungen. Häufig seien Pilzinfektionen und parasitäre Erkrankungen wie die Giardiasis. Offenbar ist die Wiege der Menschheit auch die Wiege der infektiösen Krankheiten. Über 60 Prozent der Todesfälle in Afrika sind auf ansteckende Krankheiten zurückzuführen. Auch die Afrikanische Schlafkrankheit nimmt derzeit zu. Erkrankungen rund um Blutdruck und Stoffwechsel, vom Hochdruck, über Diabetes, Schilddrüsenerkrankungen bis hin zur Gicht sind weit verbreitet, ebenso Augenerkrankungen wie das Glaukom. Dr. Ntuité: „In vielen afrikanischen Regionen fehlt es medizinisch an allen Ecken und Enden. Viel zu wenig Impfungen, viel zu wenig sauberes Trinkwasser und eine mangelhafte Hygiene sorgen dafür, dass sich die Krankheiten verbreiten.“ Einfache medizinische Grundlagen seien nicht gegeben. „Es gibt nur wenige hochtechnische Diagnosemöglichkeiten wie Computer- oder Magnetresonanztomographie. Krankenkassen wie in den Industrieländern gibt es selten in Afrika. Wegen der Armut sind viele Patienten nicht in der Lage, ihre medizinische Behandlung zu bezahlen.“ 

Ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung und täglich verarmen Millionen Menschen, weil sie viel Geld für eine medizinisch notwendige Behandlung bezahlen müssen. Es ist an der Zeit kritisch zu fragen, warum die Weltgemeinschaft dem Ziel „Gesundheit für alle“ noch so weit hinterherhinkt. 

„Mein Essen zahle ich selbst“ 

Seit 1883 ist die gesetzliche Krankenversicherung ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Gesundheitssystems und  - wie Herbert Hochheimer ergänzt – auch ein wesentlicher Bestandteil der deutschen Volkswirtschaft: „In Deutschland sind etwa 10- 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit Gesundheit und Krankheit verbunden, etwa 58% davon werden durch Krankenkassenbeiträge getragen.“ 

Herbert Hochheimer praktizierte viele Jahre als Psychotherapeut und Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und traditionelle chinesische Medizin in Schwalmtal. Er ist Mitglied bei IPPNW, den Internationalen Ärzten in sozialer Verantwortung und für die Verhütung des Atomkrieges. Die IPPNW wiederum ist Mitglied der 2011 gegründeten Deutschen Plattform für globale Gesundheit, einem Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Wissenschaftlern, der sich in die Gesundheitsdebatten auf unterschiedlichen Ebenen einmischt und den Zusammenhang zwischen globalen und lokalen Einflussfaktoren von Gesundheit stärker ins öffentliche Bewusstsein bringen möchte. 

Hochheimer wehrt sich gegen die ideologische Aufladung des Gesundheitssystems: „Die Diskussionen der letzten Jahre um Kostenexplosionen im Gesundheitswesen und den angeblichen zusätzlichen Lasten durch die Überalterung der Gesellschaft waren verlogen. Statistisch gesehen ist der Anteil des Gesundheits- und Krankheitsbereich an der deutschen Volkswirtschaft über die letzten Jahrzehnte konstant. Von einer Kostenexplosion kann daher keine Rede sein.“ Auch der These von der wachsenden Belastung des Gesundheitssystems durch steigende Lebenserwartung widerspricht Hochheimer: „Die Hauptkosten entfallen statistisch auf das letzte Lebensjahrzehnt und ändern sich kaum, wenn es sich nach hinten verschiebt.“ Hochheimers Fazit der „Gesundheitsdebatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten: „Da wurden viele Nebelkerzen gezündet. Dabei ging es eigentlich um Durchdringung und Unterordnung des Gesundheitswesens durch Profitinteressen.“ Und in der Tat. Die Gesundheitswirtschaft strotzt vor Wachstumsoptimismus. Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaunternehmen und Anbieter von Wellnessleistungen sorgen dafür, dass der Sektor zu einem unentbehrlichen Teil der deutschen Volkswirtschaft gehört. Dass es dabei nicht immer ethisch einwandfrei zugeht, macht Hochheimer am eigenen Beispiel deutlich: „Als junger Arzt habe ich mich an einer so genannten ärztlichen Anwendungsbeobachtung für Betablocker beteiligt und anfangs geglaubt, der Wissenschaft zu dienen. Erst beim so genannten Abschlusskongress habe ich gemerkt, was läuft.“ Der mehrtägige Kongress mit bestem Catering in einem Hilton-Hotel auf Korfu sei für die beteiligten Ärzte kostenfrei gewesen. Der wissenschaftliche Teil bestand aus einem Grußwort und einigen kurzen statistischen Erfahrungsberichten. Hochheimer: „Er war nicht nur schwach besucht, sondern auch nach 20 Minuten beendet.“ Niemand sei gegen Korruption gefeit und in der Pharmaindustrie werde „viel Geld verbraten“, um die Ärzte vor den eigenen Karren zu spannen. Seit dieser Erfahrung sympathisiert Hochheimer mit MEZIS (Mein Essen zahl ich selbst). Sie ist Teil der internationalen ärztlichen Bewegung „No free lunch“ und wehrt sich gegen das Industriesponsoring von ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen.  

Hochheimer hat nichts gegen Ökonomisierung im Gesundheitswesen, solange es um betriebswirtschafts- und volkswirtschaftliche Planung und Evaluierung medizinischer Leistungen geht. Hochheimer: „Auch in der Medizin gilt ‚ohne Moos nix los‘. Kritischer werde es, wenn Profitinteressen die Oberhand gewinnen. „Dann werden Ressourcen zu Lasten der medizinischen Standards eingespart. Das fängt bei der unterbesetzten Nachtschicht im Krankenhaus an, geht über die Reduktion der Medikamentenvielfalt und hört bei der menschlichen Organbank als kommunaler Standortfaktor noch lange nicht auf.“ Wer zum Beispiel die deutschen Fallzahlen im Bereich invasiver Herzdiagnostik oder Wirbelkörperoperationen mit denen anderer Wohlstandsländer vergleicht, kann nur zu einem Schluss gelangen: Die Ursachen für die Steigerungen liegen wohl eher im deutschen Abrechnungssystem als in der medizinischen Notwendigkeit. Dass der „freie Markt“ im Gesundheitswesen nur unzureichend funktioniert, zeigen auch die deutschen Diskussionen um medizinische Über-, Unter- und Fehlversorgungen. Es gibt politische Steuerungsdefizite.

Hochheimers Fazit: „Wir brauchen eine bedarfsgerechte Medizin, solidarisch über die gesetzliche Krankenversicherung finanziert, für jedermann zugänglich, mit verbindlichen im demokratischen Prozess erarbeiteten Regeln.“    

Breiter Gesundheitsbegriff = viele Krankheiten

Dr. Ralph Thoms ist Internist und Hausarzt, praktiziert in einer Gemeinschaftspraxis in Grefrath und in der Nettetaler Praxis für Tumortherapie. Dr. Thoms ist Spezialist für Schmerz-und Hypnosetherapie und unterstützt seine Frau bei Mediveda – einer Praxis für Yoga und Meditation in Grefrath und Umgebung. Seine Eingangsfrage ans VHS-Grenzlandgün-Publikum: Wer fühlt sich gerade gesund im Sinne der WHO-Definition? Es melden sich nur zwei. Zwei andere antworten mit "Ja" auf die Frage, wer sich gerade krank fühle. Die große Mehrheit liegt also „irgendwo dazwischen“. Für Dr. Thoms der Beweis, dass die Gesundheitsdefinition der WHO dem Alltagsempfinden nicht besonders nah kommt. Vor allem, weil man mit einer derart breiten Gesundheitsdefinition jede Abweichung vom vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehen als Krankheit deklarieren kann. 

Thoms: „Damit fällt jede Verhaltensabweichung, jede psychosomatische Beeinträchtigung durch Lebensereignisse, jede soziale Beeinträchtigung, jede Normabweichung bei Laboruntersuchungen unter den Krankheitsbegriff.“ Mit Beispielen wie ADHS, Burnout, Mobbing, überflüssigen Vorsorgeuntersuchungen und den Möglichkeiten der Gendiagnostik begründet Dr. Thoms, warum er es beim Gesundheitsbegriff mehr mit Friedrich Nietzsche hält: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ In der Tat: Täglich erleben wir die großen Unterschiede zwischen sozialer, körperlicher und geistiger Funktionsfähigkeit und entsprechendem Wohlbefinden. Problematisch sei an der breiten Gesundheitsdefinition, dass im Alltag Toleranz und Akzeptanz für kleine Funktionseinschränkungen oder Altersbeschwerden nachlassen und die Betroffenen schnell nach medizinischen Dienstleistungen und Pharmaprodukten rufen. Zwar sinken sie derzeit auf Grund strengerer Verordnungsrichtlinien, aber die vergangenen Steigerungsraten bei der ADHS-Diagnose und der Verordnung von Methylphenidat (Ritalin) verdeutlichen die Kette: Ein breiter Gesundheitsbegriff schafft neue Krankheitsdefinitionen, die wiederum BIP-relevante Nachfrage erzeugen.  

 

Krankheitsdefinitionen und die große Wunderheilung  

Es gibt noch andere Möglichkeiten,  „Krankheiten“ als volkswirtschaftlich relevanten Wachstumsmotor einzusetzen. Eine zentrale Rolle bei der Definition und Diagnostik von psychischen Erkrankungen und psychopathologischen Symptomen spielt das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM). Thoms: „Die aktuell gültige Auflage DSM-5 ermöglicht es, individuelle Trauer nach dem Verlust einer nahe stehenden Person bereits nach zwei Wochen als Krankheit einzustufen. Das DSM-3 von 1980 hatte für Trauer noch ein ganzes Jahr zugestanden, das DSM-4 von 1994 schon nur noch zwei Monate. Durch die veränderten Definitionen werde den Betroffenen ein frühzeitiger und abrechenbarer Zugang zu medizinischer Hilfe ermöglicht.“ Beim Trauern werde das, was früher als normal galt, mittlerweile als krankhafte Abweichung definiert. 

Manche Symptome bleiben aktuell, aber die damit verbundenen Krankheiten geraten in Vergessenheit. Thoms nennt als Beispiel die Neurasthenie. Prominente Kranke waren der Schriftsteller Robert Musil oder der Soziologe Max Weber. Vor 100 Jahren galt sie als Modekrankheit für die gehobene Gesellschaftsschicht. Heute wird sie kaum noch diagnostiziert, obwohl die Symptome allzu bekannt sind: anhaltende Klagen über mangelnde Belastbarkeit und gesteigerte Ermüdbarkeit oder körperliche Schwäche und Erschöpfung, häufig begleitet von Kopfschmerz, Gliederschmerzen, Muskelverspannungen und der Unfähigkeit zu entspannen. Es ging um Schwierigkeiten der Lebensbewältigung. Sie werden heute unter Stichworte wie Stress, Burn out oder chronische Müdigkeit gefasst. Es geht im Grunde um Selbstwirksamkeit, die eigene Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, um eigene Widerstandsfähigkeit und Ressourcen. Es geht um menschliche Resilienz und Vulnerabilität. Das gemeinsame an diesen neuen und alten Krankheitsbildern beschreibt Dr. Thoms so: „Abgegeben wird die Verantwortung des Einzelnen und der Gesellschaft. Nach dem Motto `der Arzt soll es richten` schwinden das Grundvertrauen in Körper und Geist und die Akzeptanz für Einschränkungen.“ 

Was als „krank“ gilt, steht in der ICD der WHO. Die unterscheidet unter anderem zwischen Krankheiten des Blutes, des Stoffwechsels, der Psyche, des Nervensystems, der Augen und Ohren, des Kreislaufs, der Atmung, der Verdauung, der Haut, des Muskel-Skelett-Systems oder des Uro-Genitalsystems. Die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ist und bleibt umstritten, weil sie den Daten- und Patientenschutz aushöhlt, weil sie zwischen statistischen und medizinischen Erfordernissen schwankt und nicht klar zwischen Diagnosen und Symptomen unterscheidet. Zu den möglichen therapeutischen Maßnahmen gibt es nationale Versorgungsleitllinien, die dem Arzt oder der Ärztin eine systematisch entwickelte Entscheidungshilfe über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei Gesundheitsproblemen geben soll. Die Leitlinien dienen als Grundlage der evidenzbasierten Medizin. Bis heute ungeklärt bleibt der Evidenzbegriff. Er schwankt immer noch zwischen dem Offensichtlichen und dem wissenschaftlich Nachgewiesenen. In Sachen Wissenschaftlichkeit werden häufig fehlende statistische Sicherheit, oder die von Pharmafirmen gesponserten und interessegeleiteten Metaanalysen kritisiert. 

Hochheimer macht in diesem Zusammenhang auf eine der größten Wunderheilungen der Welt aufmerksam: „Sie geschah 1992 mit der Herausnahme der Homosexualität aus dem ICD-Katalog der Weltgesundheitsorganisation.“ In der bis dahin gültigen neunten Ausgabe der ICD erschien Homosexualität unter der Ziffer 302.0 als eigene Krankheit. Was als krank und was als gesund gilt, ist auch eine gesellschaftliche Frage.

Kinzigtal und das große Wundermittel

Im alten China – so heißt es – wurden die Ärzte nicht für das Behandeln von Krankheiten sondern für die Erhaltung von Gesundheit bezahlt. 2009 empfahl der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen eine Rückbesinnung auf dieses Prinzip. Die finanziellen Anreize müssten so gesetzt werden, dass alle Leistungserbringer ein eigenes Interesse am Wohle des Patienten besitzen. Seit Jahren fordert der Vorsitzende des Sachverständigenrats Professor Dr. Ferdinand M. Gerlach ein „Weniger ist manchmal mehr“ für den Medizinbetrieb. Er warnt vor überflüssigen Vorsorgeuntersuchungen,  Überdiagnostik und Multimedikation.  Seine Kongresse verzichten auf die Unterstützung der Pharmaindustrie,  und er fordert systematischen Schutz vor zu viel und falscher Medizin.

Das ist auch im Sinne von Dr. Ralph Thoms. Ihn fasziniert der Modellversuch „Gesundes Kinzigtal“. Unzufriedene Mediziner gaben vor zehn Jahren den Anstoß für diese Initiative. Sie wollten weg vom klassischen patriarchalischen Medizinmodell der "Halbgötter in Weiß" nach dem Motto „Ich sorge für dich und ich mache dich gesund“. Das Prinzip funktioniert sowieso nicht. Das „gesunde Kinzigtal“ setzt ein Modell um, das der Hamburger Gesundheitsmanager Dr. Helmut Hildebrandt und die damalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer unter dem Stichwort „integrierte Versorgung“ vor zwei Jahrzehnten entwickelt haben. Die wissenschaftlichen Begleituntersuchungen weisen den Trend: Die Menschen des Kinzigtals erleben mehr Lebensqualität. Die Ärzte haben mehr Erfolgserlebnisse. Die notwendigen Zuschüsse der Krankenkassen sinken.

Thoms propagiert daher schon heute ein Wundermittel, das auch im Kinzigtal zur Anwendung kommt: „ Es reduziert Blutfette, halbiert bei Risikopatienten das Herzinfarktrisiko, senkt den Blutdruck wie ein Hochdruckmedikament, reduziert deutlich das Diabetesrisiko, verbessert die Hirnleistung, senkt das Risiko für zahlreiche Krebserkrankungen, für Depression und Demenz und hält jung, beweglich und fit.“ Es geht um Bewegung.

Und die braucht es offenbar auch beim Thema Globale Gesundheit. Das Bundesgesundheitsministerium bereitet dazu eine Strategie vor, die das Bundeskabinett in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 verabschieden soll. Bei der Lektüre mancher Positionspapiere drängt sich der Eindruck auf, globale Gesundheit habe mehr mit Hightech und Wirtschaftsexporten zu tun als mit Impfungen, Hygiene und Verhältnis- und Verhaltensprävention. Wenn „globale Gesundheit“ darin besteht,  die Gesundheitswirtschaft auf globalen Wachstumskurs zu bringen, stehen die Weltnachhaltigkeitsziele Nr. 3 und 8 im Einklang.

Als wichtigste Institution im Bereich der globalen Gesundheitspolitik nennt das Bundesgesundheitsministerium die Weltgesundheitsorganisation. Doch die ist schon seit langem unterfinanziert und bezieht rund 80% ihres Budgets aus Spenden von Stiftungen und Pharmaunternehmen. „Wer die Musik bezahlt, bestimmt was gespielt wird.“ Eine vernünftige und evidenzbasierte Politik der humanen gesundheitlichen Basisversorgung für alle Menschen kann sowohl aus dem Schwarzwald als auch von der internationalen Ärzteschaft lernen: „Gemeinsam mehr bewegen“ und „No free lunch“. Weniger Medizin für überversorgte Menschen, schafft mehr Raum für die medizinische Grundversorgung der Unterversorgten. Wenn ein gesunder Mensch jemand ist, der nicht gründlich genug untersucht wurde, ist „Gesundheit für alle“ keine Utopie.

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