niederrheinisch - nachhaltig 

Freitag, 28. Mai 2021

Klimaurteile aus Den Haag und Karlsruhe: Wendemarken für den niederrheinischen Umweltschutz?

„Die Verfassung eines Staates sollte immer so sein, dass sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert.“

Dieser - ungegenderte - Satz des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec gilt jetzt auch für das vollzugsdefizitgeplagte Umweltrecht. Menschen und juristische Personen können ihre sozialen und ökonomischen Belange einklagen. Boden, Wasser, Luft oder die Erdatmosphäre verfügen hierzulande über keine eigenständige Rechtssubjektivität. Lange Zeit waren daher vor Gericht nur die Klagen auf weniger Umweltschutz erfolgreich.

Das war vorbei, als der Hoge Raad, das oberste Gericht der Niederlande, am 20. Dezember 2019 im sog. Urgenda-Urteil die niederländische Regierung dazu verurteilte, die Treibhausgasemissionen der Niederlande bis Ende 2020 gegenüber dem Basisjahr 1990 um 25% statt um die von der Regierung angestrebten 20% zu senken. Urgenda ist eine 2007 gegründete Stiftung gegen die Vollzugsdefizite im nationalen, europäischen und internationalen Umweltrecht. Der Hohe Rat gab Urgenda recht, dass die Europäische Menschenrechtskonvention den Staat verpflichte, die niederländischen Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich zu reduzieren.

Seit dem Urteil wird die niederländische Gerichtsbarkeit als Vorbild einer globalen Bewegung bejubelt, die die Justiz unter dem Schlagwort „Klimagerechtigkeit“ für eine entschiedenere Klimaschutzpolitik aktivieren will. „Den Haag“ hat mit der „Klimaatzaak Urgenda“ einen Paradigmenwechsel eingeleitet.

Seit dem 29. April 2021 gilt auch in Deutschland: Klima- und Umweltschutzvorgaben schützen menschliche Grundrechte auf Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit. Der Staat ist in der Pflicht, drohende Gefahren abzuwehren – auch für zukünftige Menschen und Menschen außerhalb Deutschlands. Die Grundrechte gelten zeit- und ortsübergreifend. Damit ist globale Zukunftsverantwortung justiziabel geworden. Das könnte zukünftig auch Unternehmen betreffen, wenn der Hoge Raad das Shell-Urteil des Den Haager Bezirksgerichts  höchstrichterlich bestätigt.

Bezirksgericht Den Haag: Wettbewerbsverzerrung und globale Unternehmensverantwortung

© Michael Gaida - pixabay

Das Shell-Urteil vom 26. Mai 2021 ist noch nicht rechtskräftig. Es hat aber jetzt schon Rechtsgeschichte geschrieben. Zum ersten Mal wurde ein Konzern dazu verpflichtet,  seiner Verantwortung für die Klimakrise gerecht zu werden. Shell müsse seine - und die bei seinen Tochterunternehmen, Zulieferern und Kunden (Scope 1-3) durch Shell entstandenen -  Kohlendioxid-Emissionen bis 2030 um 45 % im Vergleich zu 2019 senken, sagt das Gericht. Angesichts des breiten internationalen Konsenses, dass jedes Unternehmen eigenständig auf das Ziel „Netto-Null-Emissionen bis 2050“ hinarbeite, sei zu erwarten, dass Shell dieses Zwischenziel erreichen könne. Da alle Unternehmen ihren Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten müssten, könne sich Shell auch nicht mit dem Hinweis auf Wettbewerbsverzerrungen aus seiner globalen Verantwortung stehlen

Das Gericht stellt fest, dass die gesamten CO2-Emissionen der mit 1.100 Unternehmen in 160 Ländern aktiven Shell-Gruppe höher seien als die vieler Staaten, einschließlich der Niederlande. Shell hat seinen Hauptsitz in Den Haag und machte 2019 hauptsächlich mit fossilen Brennstoffen einen Umsatz von rund 342 Milliarden Dollar Umsatz.

Seit einem internen Bericht aus dem Jahre 1988 sei dem Shell-Konzern bekannt, welche Rolle er beim Treibhauseffekt spiele. Seit 1998 kommuniziere er öffentlich, dass er seine Treibhausgasemissionen reduzieren werde, seit 2018 beziehe er sich als klimarelevanter „Nicht-Parteien-Stakeholder“ dabei auf das Pariser Klimaabkommen. Doch weder der Shell-Zielkatalog noch die tatsächlichen Investitionen würden dem Pariser Klimapfad entsprechen. Damit verletze der Konzern die notwendige Risikovorsorge und seine Sorgfaltspflicht beim Schutz der Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels.

Das Gericht spricht von den Gesundheitsrisiken und Todesfällen durch Hitzeperioden, zunehmenden Infektionskrankheiten und Luftverschlechterung. Das niederländische Wattenmeer werde erheblichen Risiken ausgesetzt, der Meeresspiegel steige an, das Flusswasser versalze, die Wasserqualität verschlechtere sich. Es drohten Überschwemmungen und Dürren. Daran würden auch Klimaanpassungsmaßnahmen nichts mehr ändern können. 

Das Gericht beruft sich auf die UN-Leitprinzipien, die einen direkten Zusammenhang zwischen Umwelt- und Klimarisiken und der Sicherung der Menschenrechte postulieren. Seit 2011 erwarte die Europäische Kommission von europäischen Unternehmen, dass sie die 31 UNGP-Prinzipien befolgen. Sie gelten als der globale Standard zu Unternehmensverantwortung, der aufzeigt, welche Pflichten wirtschaftliche Akteure beim Menschenrechtsschutz haben. Die aktuellen Diskussionen um das deutsche Lieferkettengesetz haben auch gezeigt, wie das Exportland Deutschland das Thema Wirtschaft und Menschenrechte ausbremst.  

Das niederländische Bezirksgericht sieht die Staaten in der Pflicht, auf ihrem Hoheitsgebiet den Schutz vor Menschenrechtsverletzungen durch Dritte (einschl. Unternehmen) zu gewährleisten.

Das Gericht stellt fest, dass es keinen rechtsverbindlichen Standard zur Bekämpfung des Klimawandels in den Niederlanden und im Wattenmeer formuliere, aber die Begrenzung des Kohlenstoffbudgets für die Bekämpfung des Klimawandels und seiner Risiken für die Menschenrechte für dringlich halte. Dies gelte besonders für die Niederlande, deren Temperaturanstieg bislang doppelt so schnell voranschreite wie im globalen Durchschnitt.

Der niederländische Richterspruch ist ein Triumph für die Umweltorganisationen und die 17.000 Einzelkläger*innen rund um die „Milieudefensie“. Die Entscheidung hat Signalwirkung für andere Klimaklagen. Sollte sie höchstinstanzlich bestätigt werden, steht fest: Auch Großunternehmen sind verpflichtet, die Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Auf Wirtschaftsprüfer*innen und Fondsmanager*innen kämen neue Arbeitsfelder hinzu. Die Risikoprofile für Energiekonzerne würden neu gezeichnet werden. Konzerne seien - so das Gericht - verpflichtet, mit Sorgfalt Schäden und Schadensersatzansprüche zu verhindern, die als Folge des Klimawandels entstehen könnten.

Bundesverfassungsgericht: Rationalitätsgewinn für den Klimaschutz

© Gerd Altmann - pixabay

Noch vor wenigen Wochen hieß es, dass das 1994 ins Grundgesetz unter Artikel 20a aufgenommene Staatsziel „Umweltschutz“ wenig rechtliche Auswirkungen habe. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht diesen Artikel 20a zu einer „justiziablen Rechtsnorm“ erklärt, die den politischen Prozess zugunsten ökologischer Belange binde. Denn es sei notwendig, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen, dass nachfolgende Generationen sie ohne unfaire Einschränkungen und Belastungen weiter bewahren können. Dabei verknüpften die Verfassungsrichter den Artikel 20a mit dem nicht unumstrittenen Budget-Konzept des Sachverständigenrats für Umweltfragen und mit dem Grundrecht auf Schutz des Lebens und körperliche Unversehrtheit. Dieses Recht stehe allen gegenwärtigen und zukünftigen Menschen zu. Der Gesetzgeber müsse daher Einschränkungen und Maßnahmen zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen des Budgets fair verteilen und wissenschaftlich belastbare Hinweise auf mögliche Beeinträchtigungen sorgfältig abwägen.

Damit ist die deutsche Politik verdonnert, Umwelt- und Klimaschutz nicht zu Lasten künftiger Generationen zu verschleppen. Sie muss das ökologische Ressourcenbudget und die ökologischen Aufnahmekapazitäten für Schadstoffe so verteilen, dass die Kinder und Enkel und Menschen außerhalb Deutschlands in ihren Lebensmöglichkeiten nicht unfair eingeschränkt werden.

Mit seinem Klima-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht den Artikel 20a des Grundgesetzes präzisiert und aufgewertet. Das ist ein Rationalitätsgewinn für den politischen Umgang mit natürlichen Lebensgrundlagen und Generationengerechtigkeit.

Jetzt ist juristisch zu prüfen, was das am 29. April 2021 veröffentliche Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 24. März 2021 für den Bundesverkehrswegeplan, für Natur- und Artenschutz, für die Nachhaltigkeitsstrategien, für den Umgang mit Wasser und Boden, für den Kohleausstieg, die kommunale Rechnungsprüfung oder für Landesentwicklungs- und Regionalpläne bedeutet. Die Folgen für den niederrheinischen Umweltschutz könnten weitreichend sein und die niederrheinische Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft vor neue Herausforderungen stellen…  

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