niederrheinisch - nachhaltig 


Dienstag, 7. April 2020

Corona und Gerechtigkeit

Nichts ist sicher in diesen Tagen. In der Klimafrage wissen wir Bescheid, tun aber das Erforderliche nicht. Im Zusammenhang mit "Corona" wissen wir derzeit viel zu wenig, müssen aber täglich handeln.  Denn im Grunde ist lediglich die Stabilisierung der durchschnittlichen Todesrate eine  „Corona-Erfolgskennziffer“. Dazu kann es hier und heute noch keine Erkenntnisse geben.  Doch auch diese Ziffer ist nur ein möglicher  Indikator, denn über Langzeitfolgen einer Infektion können wir auch noch nichts wissen. 

In der der Printausgabe der heutigen Rheinischen Post (RP) findet man viele widersprüchliche Aussagen zum vernünftigen Krisenmanagement  für die Zeit nach den Osterferien,  vor den geplanten NRW-Kommunalwahlen und den Weihnachtsmärkten 2020. Eine kleine Notiz  aus Bergamo spricht derweil von sechs Mal so viel Toten wie im März 2020.  Wir brauchen mehr Wissen und Geduld. 

„Zur Lage“ liefert die heutige RP einen klugen Gastbeitrag von Aladin El-Mafaalani.  Für Nichtabonnenten gibt's ihn nur kostenpflichtig. 

El Mafaalani unterstellt denen ein mangelndes Problembewusstsein, die jetzt die Corona-Maßnahmen zeitnah lockern wollen.  Denn die Datenlage sei "voller Unsicherheiten". Die Konsequenzen der derzeit diskutierten Lockerungsstrategien seien noch nicht seriös abschätzbar. Denn noch sei überhaupt nicht klar, wer tatsächlich zu den besonders Gefährdeten gehört. Seit Fazit: "Man kann es drehen, wie man will: Es ist noch kein belastbarer Ansatz in Sicht. Daher kann es nur darum gehen, Zeit zu gewinnen, für (medizinische) Forschung, für die Aufrüstung des Gesundheitssystems und letztlich für die Entwicklung eines Mittelwegs. Hierfür bedarf es vieler abgestimmter Maßnahmen. Und Geduld."

Information als Ware

Das wirft die Frage auf,  wie viel der demokratischen Gesellschaft der Zugang zu Informationen wert ist - besonders in einem jeden Einwohner und jede Einwohnerin zutiefst betreffenden Ausnahmezustand. Die Tageszeitung TAZ hat ihre Paywall in Corona-Krisenzeiten abgeschaltet.   

Wer in diesen unsicheren Zeiten umfangreich an seriöse Informationen herankommen  möchte, müsste etliche Abonnements abschließen oder sich auf ein kurzes Leserecht bei den öffentlichen Online-Bibliotheken beschränken. Information und Meinungsbildung in unserer digitalen Demokratie sind längst zur Ware verkommen.  Selbst die „digital outcasts“ haben alte Möglichkeiten verloren. In der vordigitalen Zeit konnten sie sich am „gut sortierten Kiosk um die Ecke“  zu bestimmten Themen an einem Tag jeweils eine Ausgabe der meinungsbildenden Zeitungen kaufen. Auch das war kostenpflichtig.  Aber man zahlte einmal, behielt seine Daten für sich und wurde von weiterer Werbung verschont. Wer heute einen direkten Überblick über die Tagespresse erhalten möchte, zahlt, muss seine (Probe-)Abos im Auge behalten und bleibt selbst nach fristgerechter Kündigung im Fangnetz der digitalen Marketingagenturen.

Systemrelevanz

El Mafaalani  ist ein Soziologe, der die politische Gerechtigkeitsdebatte mit frischen Thesen zur Wirkung sozialer und finanzieller Schranken anregt.  Das betrifft nicht nur die pay walls der Zeitungen. Die Corona-Krise schweißt die Gesellschaft nicht nur zusammen, sondern macht soziale und finanzielle Unterschiede bewusst.  Bei den Fördermitteln für Kleinstunternehmer*innen, Start-upper oder bei den Sonderzahlungen für die „neuen Systemrelevanten“ werden soziale Unterschiede deutlich. 

Während viele priviligierte Homeofficer endlich Zeit finden, über Grundsätzliches nachzudenken oder an neuen Geschäftsmodellen zu arbeiten, müssen die „neuen Systemrelevanten  „ran“, um die Grundversorgung aufrecht zu erhalten.

Abstandsgebote von zwei Metern sind für sie oft reine Theorie, wenn sie ihren „Job“ erledigen oder wenn sie mit dem ÖPNV zur Arbeit fahren müssen. Der Gesellschaft  ist bewusst, welchen gesundheitlichen Risiken sie diese Menschen mitten in der „Stay at home Kampagne" aussetzt. Arbeitgeber setzen auf Sonderzahlungen. Doch von 1.000 Euro zusätzlich bleibt auf Grund der Abgabendynamik in den niedrigen Einkommensklassen  den meisten etwa die Hälfte. Bei Steuerklasse fünf sind es sogar nur  463,29 Euro. Es macht schon was aus, in der politischen Debatte zwischen Brutto und Netto zu unterscheiden.

In Krisensituationen beweist sich wie ernst wir unsere Werte nehmen, wie belastbar die Sonntagsreden sind. Nachdem die Verwaltungen in Europa  den Ernst der Lage begriffen hatten, waren sie bereit, Menschenleben mit drastischsten Freiheitseinschränkungen und unvorstellbaren Unterstützungsgeldern zu unterstützen. Wirtschaftswissenschaftler sehen bereits das endgültige Ende der Marktwirtschaft am Horizont.

Menschenrechtskatastophe?

Derweil  geraten andere Menschen aus dem politischen Fokus. Auch sie leben im wohlhabenden Europa. Über 170.000 Deutsche hat die Bundesregierung  per Flugzeug aus ihren Urlaubsorten abholen lassen. Aber die 40.000 Menschen, die in Europa in viel zu engen Flüchtlingslagern unter katastrophalen hygienischen Bedingungen ausharren, hat sie nicht ausreichend im Blick.  Diese Menschen haben  im Alltag keine Möglichkeit,  den gesetzlich vorgeschriebenen 2-Meter-Abstand oder andere Hygienevorschriften einzuhalten. Im Gegenteil. Es ist fast so, als ob sie 24 Stunden am Tag  in ein enges Fußballstadion gepfercht werden – mit beschränktem Zugang zu sanitären Anlagen. Hotels und Pensionen stehen europaweit leer. Was passiert, wenn das Corona-Virus in den Lagern aktiv wird? Werden dann die Flüchtlinge evakuiert oder überlässt die europäische Wertegemeinschaft  die Menschen ihrem womöglich tödlichen Schicksal? 

Auch eine Wertegemeinschaft beweist sich in Krisensituationen. Die „Nachfrage nach Fakten“ zu Flüchtlingselend, Krieg oder Rüstungsexporten ist derzeit gering. Grundlegende Menschenrechte sind keine Angelegenheit von Angebot und Nachfrage. Mit virtuellen Bespaßungen oder gemeinsamem Klatschen ist keinem Flüchtling geholfen....  

Mehr dazu können Sie in einem aktuellen Papier der European Stability Initiative (ESI) nachlesen. Das können Sie ohne RP-Abo hier downloaden. 


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