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02.05.2024

WBGU: Multifunktionales Flächenmosaik und die Mehrgewinne für Mensch und Natur

2024-05-01.pngMultifunktionales Flächenmosaik. Das sei das - raumplanerische - Leitbild, unter dem jetzt dringend für Natur und Mensch zu handeln sei, sagt der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)

Am 26. April 2024 veröffentliche er sein Politikpapier Nr. 13 zum Thema Biodiversität. (1) Der WBGU möchte den Schutz und die Nutzung der Räume so zusammendenken, dass sich Zielkonflikte reduzieren und möglichst hohe Mehrgewinne für Natur und Mensch entstehen. Dazu seien möglichst kleine intensiv genutzte Flächen mit Flächen nachhaltiger Nutzung und denen des Naturschutzes zu kombinieren und Infrastrukturen wie Straßen, Leitungen oder Windenergieanlagen in das Landschaftsmosaik einzubetten.

Sog. Migrationskorridore könnten den Austausch und die klimagerechte Ansiedlung von Arten fördern: „Nur wenn gesunde Ökosysteme nachhaltig überlebenswichtige Leistungen erbringen, kann auch der Mensch gesund leben.“ (2)

Als Beispiele für multifunktionale Flächenmosaike nennt der WBGU eine Kombination von Photovoltaik-Anlagen, Wiedervernässung und Paludikultur auf einer Moorfläche oder eine biodiversitätsfreundliche Produktion von Bauholz. In wirtschaftlich genutzten Zonen könnten schwimmende Windparks Strukturen und Verstecke für die Besiedlung von Organismen schaffen, die sonst am Boden oder bodennah leben.

Biologische Vielfalt oder Biodiversität steht als Sammelbegriff für die Vielzahl der Arten, die genetischen Besonderheiten innerhalb der Arten und die Vielfalt der ökologischen Lebensgemeinschaften. Seit Jahrtausenden beeinflussen menschliche Aktivitäten die biologische Vielfalt und seit einigen Jahrzehnten offenbaren sich zunehmend negative Folgen. Um die Qualität und Kontinuität des menschlichen Lebens auf der Erde zu erhalten, muss die Biodiversität geschützt bzw. wiederhergestellt werden. Die Frage, wer den Ansatz des Multifunktionalen Flächenmosaiks wie und wo umsetzen könnte, lässt der WBGU weitgehend offen.

Das am 19. Dezember 2022 auf der 15. Weltnaturkonferenz (COP15) in Montreal verabschiedete „Kunming-Montreal Biodiversitätsabkommen“ (GBF) (3) (4) und das am 21. September 2023 von Deutschland unterzeichnete UN-Abkommen zum Schutz der Biodiversität auf Hoher See (BBNJ) (5) (6) (7) seien „ein einmaliges Gelegenheitsfenster“ (2). Der WBGU fordert, dass Deutschland international entschlossen vorangeht und Prozesse zur Umsetzung beider Abkommen aufsetzt, Dialogforen und Vorreiterkoalitionen initiiert sowie eine Bildungs- und Kommunikationsoffensive für die biologische Vielfalt startet. 

Das Kunning-Montreal-Abkommen will u.a. sicherstellen, dass in den kommenden sechs Jahren
• eine partizipative, integrierte und die biologische Vielfalt einbeziehende Raumplanung den Biodiversitätsverlust auf annähernd Null zurückbringt
• sich 30% der degradierten Ökosysteme in einem Prozess der wirksamen Renaturierung befinden
• 30% der Land- und Wassergebiete durch ökologisch repräsentative, gut vernetzte und gerecht verwaltete Schutzgebietssysteme effektiv erhalten und gemanagt werden.

Die einzelnen Länder haben bis 2025 Zeit, ihre nationalen Biodiversitätsstrategien und Aktionspläne zu erstellen und anzupassen. Noch hat das kein Staat getan, Deutschland hat eine neue nationale Biodiversitätsstrategie 2030 (NBS) auf den Weg gebracht. (8)

Das EU-Parlament hat am 27. Februar 2024 eine Kompromissversion des EU-Renaturierungsgesetzes mit 329 Ja-Stimmen, 275 Nein-Stimmen und 24 Enthaltungen verabschiedet. (9)  Doch in Kraft getreten ist dieser Kompromiss noch nicht. Sein Schicksal hängt in der Schwebe, nachdem Ungarn am 22. März 2024 seine Unterstützung zurückgezogen hat. Auch die Niederlande, Italien, Schweden, Finnland und Polen sprechen sich gegen den Vorschlag aus. Österreich und Belgien hätten sich enthalten. Es scheint, dass das Gesetz in der EU keine ausreichende Unterstützung mehr findet. Seit dem Treffen der Umweltminister am 25. März 2024 besteht keine Klarheit mehr über die nächsten Schritte. Die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke hofft, dass die Abstimmung über das Gesetz nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 erfolgen könne (10).

Bei der Aushandlung der GBF-  und BBNJ -Verträge spielte die EU eine Schlüsselrolle. Die Europäische Kommission hatte am 20. Mai 2020 zur Vorbereitung der 15. Weltnaturkonferenz die  eine “Biodiversitätsstrategie 2030” (11) vorgelegt. Deren Vorschläge stehen weitgehend mit dem GBF in Einklang.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete das UN-Biodiversitätsabkommen als “historisch”. Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius sprach beim Meeresabkommen von einem wichtigen „Schritt nach vorn, um die Abwärtsspirale zu stoppen“ (12)

Doch die Aussichten für die biologische Vielfalt und die Ökosysteme sind noch düster. Bisher ist es der UN oder der Europäischen Union nicht gelungen, dem Biodiversitätsverlust Einhalt zu gebieten.

Mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts sei von Ökosystemdienstleistungen abhängig, behauptet EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (13). Der umstrittene Begriff der Ökosystemdienstleitung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem umweltökonomischen Schlüsselkonzept entwickelt. Ökosystemdienstleistungen (ÖSD) gelten als essentiell für die wirtschaftliche Entwicklung.

WWF Deutschland hat im September 2010 zusammengestellt, mit welchen Werten die Umweltökonomie die Leistungen der Ökosysteme für den Menschen beziffern. Ein Beispiel: „Die rund 100.000 Schutzgebiete der Erde versorgen die Menschen mit Ökosystemdienstleistungen im Wert von 4,4 bis 5,2 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Dieser Wert übertrifft die Summe der Umsätze des weltweiten Automobilsektors, des Stahlsektors und des IT-Dienstleistungssektors.“ (14)

Das ÖSD-Konzept steht allerdings auf tönernen Füssen. Lassen sich so marktferne Sachverhalte wie Biodiversität, Lebensraumqualität und ökologische Prozesse monetär bewerten, ohne sie naturwissenschaftlich vollständig durchdrungen zu haben? Ist der Ansatz zu sehr auf den Menschen bezogen? Welche Relevanz haben die unzureichenden und umstrittenen Bewertungsinstrumente für politische Entscheidungen? Wer soll wem etwas zahlen im ÖSD-Markt? Soll Biodiversität nur dort gefördert werden, wo es am kostengünstigsten ist? Welche Rolle spielt die Gerechtigkeit?

So wie es Gründe gibt, die ÖSD-Bewertungen kritisch zu beurteilen (15), gibt es auch Gründe die vermeintlichen Mehrgewinne für Mensch und Natur nicht nur unter ökonomischen sondern unter globalen Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu bewerten. (16)

Zum multifunktionalen Flächenmosaik der WBGU gehören solidarisches Zusammendenken, eine gerechte Kosten-Nutzen-Verteilung sowie die Respektierung, Beteiligung und Stärkung von indigenen Gemeinschaften. „Indigene und lokale Gemeinschaften spielen eine besondere Rolle bei der Umsetzung flächenbasierter Maßnahmen zum Schutz, zur Wiederherstellung und zur nachhaltigen Nutzung von Biodiversität. Sie besitzen und bewirtschaften rund 25% der weltweiten Landfläche und damit zugleich rund 40% der terrestrischen Schutzgebiete und ökologisch intakten Flächen. […] Mit ihrem lokalen ökologischen Wissen und kollektiven Besitz tragen sie maßgeblich zum Erhalt der biologischen Vielfalt bei. Schutz und nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt sind für Indigene und lokale Gemeinschaften selbstverständlich. Dies ist bereits heute ein Eckpfeiler der Erhaltung der Lebensgrundlagen und des Wohlergehens der Weltbevölkerung.“ (2)

Bei der sozialökologischen Transformation nach der Agenda 2030 geht es nicht nur um schöne Worte, sondern um die konkreten Lebensverhältnisse der Menschen, vor allem der sozial und global schwächsten.

Greengrabbing und Öko-Imperialismus sind zwei miteinander verbundene Phänomene, die negative Auswirkungen auf die globalen Biodiversitätsabkommen haben können.

Greengrabbing bezeichnet die Aneignung von Land und Ressourcen durch Akteure, die vorgeben, nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden anzuwenden, in Wirklichkeit aber den Interessen von Unternehmen oder Regierungen dienen. Dies kann zur Vertreibung von indigenen Gemeinschaften und zur Zerstörung natürlicher Lebensräume führen. (17)

Öko-Imperialismus beschreibt die Dominanz von westlichen Industrienationen in der Gestaltung und Umsetzung von Umweltpolitik auf Kosten der Entwicklungsländer. Dies kann zu ungerechten Abkommen führen, die den Interessen der Industrienationen Vorrang geben und die Bedürfnisse der Entwicklungsländer ignorieren. (18)

Beide Phänomene können die Bemühungen um den Schutz der Biodiversität untergraben, da sie zu Ungerechtigkeit und dem Verlust von Souveränität und Lebensräumen führen können. 

Wann hat sich wer und warum bereit erklärt, den reichen Überflussgesellschaften die Abfälle abzunehmen oder ihnen als Kohlenstoffsenken zu dienen? „Es kann nicht die Lösung sein, dass wir Elektroautos fahren und dafür andere Teile der Welt ausgebeutet werden.“ (17)

Verweise

1. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umwertveränderungen (WBGU). Biodiversität - Jetzt dringend handeln für Natur und Mensch. [Online] 26. April 2024. https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/politikpapiere/pp13_2024/pdf_und_ebook/wbgu_pp13.pdf

2. WBGU. Biodiversität: Jetzt dringend handeln für Natur und Mensch. [Online] 26. April 2024. https://www.wbgu.de/de/service/presseerklaerung/biodiversitaet-jetzt-dringend-handeln-fuer-natur-und-mensch

3. UN Convention on Biological diversity. Globaler Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal. [Online] 19. Dezember 2022. https://www.un.org/depts/german/umwelt/COP-15-DEC-4.pdf

4. UN enviroment programme. Kunning-Montreal Global biodiversity framework. Draft decision submitted by the President. [Online] 18. Dezember 2022. https://www.cbd.int/doc/c/e6d3/cd1d/daf663719a03902a9b116c34/cop-15-l-25-en.pdf

5. United Nations -General Assembly. Draft agreement under the United Nations Convention on the Law of the Sea on the conservation and sustainable use of marine biological diversity of areas beyond national jurisdiction. [Online] 4. März 2024. https://www.un.org/bbnj/sites/www.un.org.bbnj/files/draft_agreement_advanced_unedited_for_posting_v1.pdf

6. Deutsche Stiftung Meeresschutz. UN-Vertrag zum Schutz der Hohen See. [Online] 23. September 2023. https://www.stiftung-meeresschutz.org/themen/schutzgebiete/un-vertrag-zum-schutz-der-hohen-see-bbnj-abkommen/#h-scheinheilig-beim-meeresschutz-deutschland

7. Deutsche Stiftung Meeresschutz. Keine Meereswende in Deutschland! [Online] 24. Februar 2023. https://www.stiftung-meeresschutz.org/themen/fischerei/keine-meereswende-in-deutschland/

8. BMUV. Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt. [Online] 14. Juni 2023. https://www.bmuv.de/themen/naturschutz/allgemeines-und-strategien/nationale-strategie

9. Europäisches Parlament. Parlament: Ja zur Renaturierung von 20 % der Land- und Meeresflächen der EU. [Online] 27. Februar 2024. https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20240223IPR18078/parlament-ja-zur-renaturierung-von-20-der-land-und-meeresflachen-der-eu

10. Aleksandra Krzysztoszek und Donagh Cagney. EU-Staaten verhärten Position gegen Renaturierungsgesetz. [Online] 5. April 2024. https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/eu-staaten-verhaerten-position-gegen-renaturierungsgesetz/

11. EUR-Lex. EU-Biodiversitätsstrategie für 2030. [Online] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=LEGISSUM:4459196

12. Europäische Kommission. Schutz der biologischen Vielfalt auf Hoher See: Globales Übereinkommen markiert historischen Moment. [Online] 6. März 2023. https://germany.representation.ec.europa.eu/news/schutz-der-biologischen-vielfalt-auf-hoher-see-globales-ubereinkommen-markiert-historischen-moment-2023-03-06_de

13. Europäische Kommission. COP15: Kommissionspräsidentin von der Leyen begrüßt „historisches Ergebnis“ der Weltnaturkonferenz. [Online] 19. Dezember 2022. https://germany.representation.ec.europa.eu/news/cop15-kommissionsprasidentin-von-der-leyen-begrusst-historisches-ergebnis-der-weltnaturkonferenz-2022-12-19_de

14. WWF Deutschland. Welchen Wert hat die biologische Vielfalt? [Online] September 2010. https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/Welchen_Wert_hat_die_biologische_Vielfalt.pdf

15. Michael Getzner. Bewertung von Ökosystemleistungen – eine kritische Beurteilung. [Online] 9. November 2015. https://www.bfh.ch/dam/jcr:651a4593-043c-4b18-9f42-e9d0f10c294d/Referat-Michael-Getzner-2015.pdf

16. Ulrich Brand und Markus Wissen. Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolititik und solidarische Perspektiven. München : oekom, 2024. 978-3-98726-065-0

17. Anita. Green Grabbing – der grüne Kolonialismus dieses Jahrzehnts. Wissen macht Klima. Das Blog-Magazin für ein nachhaltiges Münsterland. [Online] 9. September 2023. https://www.wissenmachtklima.de/green-grabbing-klimaschutz/

18. Hans-Peter Willig. Ökologischer Imperialismus. Biologie-Seite. [Online] [Zitat vom: 2. Mai 2024.] https://www.biologie-seite.de/Biologie/%c3%96kologischer_Imperialismus

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