niederrheinisch - nachhaltig 

Mittwoch, 6. Oktober 2021

Rheinisches Revier: Über die Förderung von Industriesymbiosen

© Marius Beckamp (Braczko - Foto)

Das Konzept „Industriesymbiose“ könne die Debatte um Strukturwandel und Kreislaufwirtschaft bereichern und die regionale Strukturpolitik bei der Transformation hin zu einem zirkulären Wirtschaftssystem vorantreiben. Das steht in der am 28. September 2021 veröffentlichten Studie (2) aus dem Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen (IAT).

Die Studie stammt aus dem Forschungsprojekt „Symbiotische Gewerbegebiete; Nachhaltige Ansätze, Potentiale für die Strukturwandelregionen sowie Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit auf nutzungsgemischte Quartiere“ - SYMBIOTIQ (1). Das seit August 2019 im Auftrag des Bundesumweltbundesamts durchgeführte Projekt soll bis Herbst 2022 eine theoretische Konzeption für symbiotische Gewerbegebiete erstellen und die dafür notwendigen ökologischen, ökonomischen, planerischen und organisatorischen Rahmenbedingungen betrachten. Besonders im Blick: die vom Strukturwandel betroffenen deutschen Braunkohlereviere.

Autor der 17-seitigen Studie „Industriesymbiosen als Ansatz regionaler Kreislaufwirtschaft – Begriffsklärung & strukturpolitische Potentiale“ ist Marius Beckamp (Foto), wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Raumkapital des IAT. (2)

Kreislaufwirtschaft als Antwort auf Wertschöpfungskrisen

Wettbewerbs- und wachstumsorientierte „Wertschöpfung“ mit

  • steigender Ausbeutung von Mensch und Natur 
  • immer mehr neuen und alten Produkten und Dienstleistungen für Konsument*innen, die eigentlich genug haben zu Lasten von Konsument*innen, die ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können
  • Nebenprodukten und -wirkungen, die „Schadschöpfung“ zu Lasten der Allgemeinheit betreiben, in dem sie Böden, Luft und Wasser beschädigen

hat auf einem begrenzten Planeten keine Zukunft. Klimawandel, Umweltverschmutzung, Verlust an biologischer Vielfalt und eine nicht nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen bedrohen die Gesundheit der Menschen, Tiere und Ökosysteme. Nach Auswegen wird gesucht….

Eine Antwort: Kreislaufwirtschaft. Sie sei längst kein rein akademisches Konzept mehr, sondern gewinne an politischer und ökonomischer Bedeutung, schreibt Beckamp. In seiner Studie (2) 

  • stellt er das Konzept der Industriellen Symbiose als Bestandteil einer zirkulären Wirtschaft vor,
  •  zeigt auf, welche Anknüpfungspunkte in Deutschland bestehen und
  • erörtert die Chancen der industriellen Symbiose für die regionale Strukturpolitik.

In Kohlekraftwerken entsteht Gips bei der Rauchgasentschwefelung, im Kühlwasser von Industrieanlagen lassen sich Koi-Karpfen züchten, und mit der Abwärme von Rechenzentren können Gewächshäuser beheizt werden. Die Verwertung von Nebenprodukten, Reststoffen und Abwärme ermöglicht bereits heute Industrielle Symbiosen, die nicht nur Ressourcen und Energie einsparen. Das Konzept der Industriesymbiose zielt darauf ab, in der Produktion entstehende Bei- und Nebenprodukte im firmenübergreifenden Austausch am Standort selbst oder innerhalb der Region in anderen Produktionsprozessen als Ressource zu nutzen.

Eine solche Form der Kreislaufwirtschaft könne auch gezielt "vor Ort" für den regionalen Strukturwandel eingesetzt werden und den Umbau zur nachhaltigen, ressourcenschonenderen Wirtschaft vorantreiben, meint Marius Beckamp.

Biologische und technische Nährstoffe

© Dieter Schütz - pixelio.de

Ideen und Konzepte zur Kreislaufwirtschaft werden seit Jahrzehnten entwickelt. Stichworte sind zum Beispiel industrielle Ökologie, cradle to cradle, regeneratives Design, Lebenszyklusmanagement, zero-waste oder ökologische Ökonomie. Alle wollen das Entstehen von umweltbelastenden Abfallstoffen vermeiden und den ökonomischen Benefit von Ressourcen maximieren.

Heute kann man die auf der Erde vorhandenen Materialströme zwei Kategorien zuordnen: Biomasse und technische Masse. Biomasse kann mehrere Nutzungszyklen durchlaufen, wird biologisch abgebaut. Biobabfall wird wieder Nahrung. Technische Masse hingegen gehört nicht in den biologischen Kreislauf.. Metalle, Kunststoffe oder synthetische Chemikalien werden im Idealfall registriert und bewertet und durchlaufen kontinuierlich das Industriesystem. 

Es geht in der Kreislaufwirtschaft auch darum, die technischen Stoffe als Nährstoffe für industrielle Infrastruktur wertzuschätzen und neben dem biologischen Kreislauf ein technisches Ökosystem aufzubauen. Die „Erfinder“ des Cradle to Cradle-Prinzips Michael Braungart und William McDonough sprechen von der Technosphäre (3).

Trotz aller Theorien schenken die Unternehmen im industriellen Alltag weder den biologischen noch den technischen Nährstoffen die Beachtung, die aus ökologischer Sicht vonnöten ist. Besser als das Recyclen von Nährstoffen funktioniert das Recyceln von Ideen.

One Health und der EU-Aktionsplan Kreislaufwirtschaft

© Hein Anton Meier - pixabay.de

Die Gesundheit des Menschen, des Tiers und des Ökosystems sind untrennbar. Dieser – nicht selten in die Esoterik-Schublade - abgelegte Gedanke - ist ein kulturelles und spirituelles Erbe, das jahrtausendealt ist und in verschiedenen Formen bis heute erhalten geblieben ist. Darauf aufbauend wurden in den 2000er Jahren im Rahmen integrierter Nachhaltigkeitsbetrachtungen „One Health“-Konzepte erarbeitet, die in jüngster Zeit wieder aufgegriffen und weiterentwickelt werden (4).

Ulrike Doyle ist seit 1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Umweltbundesamt (UBA). Von 2003 bis 2016 arbeitete sie im Sachverständigenrat für Umweltfragen. Mit ihrem UBA-Team begründete sie in einem im November 2020 erschienenen Aufsatz, warum verstärkt ökologisches Wissen in den „One Health“-Ansatz integriert werden sollte. Die Ökologisierung dieses Ansatzes könne nicht nur - durch präventive Maßnahmen und Beobachtungen - die Wahrscheinlichkeit von Epidemien und Pandemien verringern, sondern auch Synergien und Kohärenz zwischen den politischen Programmen für Gesundheit, Naturschutz und Klimazielen erzeugen und die Agenda 2030 stärken (5)

Diesen Gedanken griff die Europäische Kommission im Mai 2021 im Rahmen ihres EU-Aktionsplans für eine Null-Schadstoff-Vision 2050 (6) auf. Der Plan sieht vor, die Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden auf ein Niveau zu senken, "das als nicht mehr schädlich für die Gesundheit und die natürlichen Ökosysteme gilt und die für unseren Planeten hinnehmbaren Grenzen respektiert“.(6)

Klimawandel, Umweltverschmutzung, Verlust an biologischer Vielfalt und eine nicht nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen gefährdeten Gerechtigkeit und Gleichstellung und seien eine gesundheitliche Bedrohung für Menschen, Tiere und Ökosysteme, so die Europäische Kommission. 

Aus wirtschaftlicher Sicht gebe es klare Argumente für die Bekämpfung der Umweltverschmutzung. Ihr Nutzen für die Gesellschaft überwiege bei Weitem ihre Kosten. Die Kosten der Untätigkeit schlügen ungleich stärker zu Buche als die Kosten des Tätigwerdens: „Beispielsweise belaufen sich die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kosten der Luftverschmutzung in der EU einschließlich verlorener Arbeitstage, Kosten für das Gesundheitswesen, Ernteausfällen und Gebäudeschäden auf schätzungsweise 330 bis 940 Mrd. EUR pro Jahr, während für sämtliche in der EU unternommene Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität Kosten von zusammen 70 bis 80 Mrd. EUR pro Jahr. veranschlagt werden.“ (6). Die wachsende Nachfrage nach weniger umweltschädlichen Waren und Dienstleistungen eröffne erhebliche Geschäftschancen. Sie veranlasse die Unternehmen, nach innovativen und generationengerechten Lösungen zu suchen. (6)

Orientiert an niederländischen Konzepten arbeiten die Europäische Kommission und das Europäische Parlament im Rahmen des Green Deal an den Plänen, mit denen bis 2050 eine umfassende Kreislaufwirtschaft erreicht werden soll. (7) Abfälle würden bis dann auf ein Minimum reduziert und bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt. Im Modell „Produkt als Dienstleistung“ behalten die Unternehmen ihr Produkt über den gesamten Lebenszyklus in Eigentum und tragen dafür Verantwortung.

Die EU will im 9. EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation - Horizont Europa (8) -  „bahnbrechende Technologien und stärker systemisch ausgerichtete Lösungen“, wie z.B industrielle Symbiosen unterstützen. (6)

Zum Begriff der Industriellen Symbiose

© Dieter Schütz - pixelio.de

Der Begriff der Industriellen Symbiose (IS) beschreibe – so Beckamp – „verschiedene Ausgestaltungen eines firmenübergreifenden Austausches von industriellen Nebenprodukten als Ressourcen für weitere (industrielle) Prozesse, welcher auf der kollaborativen Nutzung von Synergien beruht, die durch geographische Nähe entstehen und zu Wettbewerbsvorteilen führen.“ (2) 

Es geht somit um die gewinnbringende Nutzung sowohl 

  • von Reststoffen, Abwärme und Abwasser als auch 
  • um den gemeinsamen Gebrauch von Infrastruktur und externen Dienstleistungen, um neue Kombinationen und Austauschbeziehungen.
  •  Derartige Symbiosen können geplant, vermittelt oder selbst organsiert sein.

Die Industrielle Symbiose habe in der Vergangenheit weniger akademisches, öffentliches und politisches Interesse erfahren als die Kreislaufwirtschaft. Das ändere sich derzeit. Die Zahl der Studien steige und auf europäischer Ebene sei ein wachsendes Interesse am Konzept zu verzeichnen, resümiert Beckamp seine Auswertung. (2)

Kalundborg oder wie eine Schulklasse eine industriesymbiotische Nische entdeckte

© Kurt Michel - pixelio.de

Als bekanntestes Vorbild des Konzepts der Industriellen Symbiose gilt der dänische „Industriepark Kalundborg“. In der kleinen Hafenstadt der Region Seeland findet auf engem Raum und in einem dichten Netzwerk aus ungefähr einem Dutzend öffentlicher und privater Unternehmen ein firmenübergreifender Austausch von Stoffen statt. Hier werden die Abfälle der einen Fabrik zur Ressource für eine andere. Das Projekt begann in den 1960er Jahren ohne explizite Planung in einer Kneipe und wurde 1972 erstmals per Vertrag geregelt und dann als gegeben hingenommen.

Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung beschreibt den Industriepark:

„Zentrale Akteure sind

1. die Stadt Kalundborg, zuständig für die Wärmeversorgung von 20.000 Einwohnern

2. das Asnæs Kraftwerk, Dänemarks größtes Kraftwerk mit einer Stromerzeugungskapazität von 1.500 MW

3. die Statoil Raffinerie mit einer Produktionskapazität von 3,2 Millionen Tonnen pro Jahr die größte Raffinerie in Dänemark

4. Gyproc, ein Gipskartonhersteller mit einer jährlichen Produktion von 14 Millionen Quadratmeter Gipskartonplatten

5. das Biotechnologieunternehmen Novo Nordisk, das 40 Prozent des weltweiten Insulinbedarfs produziert

„Die Kommune Kalundborg tritt als städtisches Wasserwerk sowie Repräsentant der Region und der Symbiose nach außen durch ein Informationszentrum auf. Zwischen den Akteuren besteht ein Netzwerk, das Materialien inklusive der Abfälle, Wasser, Energie oder Wissen austauscht bzw. kaskadiert einsetzt (…) Beispielsweise wird das Abwasser der Statoil Raffinerie für Sekundärzwecke und Kühlwasser im Asnæs Kraftwerk zur Dampf- und Stromerzeugung und für den Entschwefelungsprozess wiederverwendet. Letzterer wiederum erzeugt Industriegips, der teilweise den Bedarf an natürlichem Gips von Gyproc deckt. Novo Nordisk bezieht seinen gesamten Bedarf an Dampf aus der Weiterleitung des Dampfes aus dem Asnæs Kraftwerk. Insgesamt hat das Kraftwerk im Netzwerk eine zentrale Rolle durch eine Vielzahl von Vernetzungen und speist so mehr als 95 Prozent des genutzten Wassers wieder in das Netzwerk ein. Darüber hinaus versorgt das Kraftwerk die Einwohner der Stadt Kalundborg mit Wärme (…). Und die Entwicklung geht weiter: Ein 2018 etablierter Prozess verwertet u.a. die Biomasseströme aus der Insulin- und Enzymproduktion von Novo Nordisk zu Biogas, das als Erdgasersatz dient (…) Insgesamt zeichnet sich die Kalundborg-Symbiose durch den Austausch von 25 Ressourcenströmen gruppiert in Wasser, Energie und Materialströme aus. Dabei handelt es sich um keine statischen Austauschprozesse, die einmal etabliert für unbestimmte Zeit fortbestehen. Sie sind vielmehr Änderungen durch die gesetzlichen und technologischen Entwicklungen im Marktumfeld der Nebenprodukte und Abfälle unterworfen.“ (9)

1989 bezeichnete eine Schulklasse im Rahmen eines Workshops den stofflichen Austausch im Industriepark als Symbiose. Im selben Jahr veröffentlichten der Physiker Robert A. Frosch und der Chemieingenieur Nicholas E. Gallopoulos einen Artikel zu industriellen Ökosystemen und deren Optimierungspotenzial (20). In Analogie zu ökologischen Systemen weist der Begriff der industriellen Symbiose auf die Vorteile von einem Leben miteinander und im Austausch hin, betont aber gleichzeitig auch eine gewisse Besonderheit des jeweiligen Systems.

Seit 1989 gilt Kalundborg als Beweis dafür, dass industrielle Ökosysteme existieren können. Seit 1996 bewirbt die Region Seeland mit Unterstützung der Europäischen Union Kalundborg als Vorzeigeprojekt für Industrieelle Symbiosen, die Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz, Innovation und Ressourcen-Management intelligent kombinieren. Die Neue Züricher Zeitung beschrieb Kalundborg als „Symbiose von Gewinn und Gewissen“ (10), die der Utopie einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft „erstaunlich nah“ komme. 

Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung beschrieb 2020 die ökologischen und sozialen Effekte dieser einzigartigen Industriesymbiose: „Kalundborg“ spare jährlich 3,9 Millionen Kubikmeter Wasser, 635.000 Tonnen Co2-Emmissionen und rund acht Millionen Kubikmeter Erdgas, habe neue Investoren angezogen und seit 1972 über 5000 Arbeitslätze in der Region geschaffen. (9)

Die Vorstellung der „Industriellen Symbiose von Kalundborg“ auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung“ (UNCED) im Juni 1992 in Rio de Janeiro löste weltweit eine neue systemische Betrachtung der Vernetzungspotenziale in Industriegebieten aus. Der Gedanke, sie als „Eco-industrial parks“ zu designen oder sie zu „Zero Emissions Parks“ weiterzuentwickeln, verbreitete sich in den 1990er Jahren und schlug sich in entsprechenden Projektvorhaben nieder. In Deutschland hat vor allem die Chemieindustrie ihre Anlagen zu Industrieparks ausgebaut.

Insgesamt sei die Umsetzung ökosystemarer Designs deutlich hinter den anfänglichen Erwartungen zurückgeblieben, stellte Thomas Sterr 2012 nach einer Auswertung entsprechender Studien fest. (11). Die Erfolgsgeschichte von Kalundborg könne wegen der Einzigartigkeit ihrer Entwicklungsbedingungen kaum direkt nachgeahmt werden. Ähnlich lautete das Fazit einer 2016 veröffentlichten Fallstudienanalyse des Wuppertal-Instituts und des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Kalundborg“ sei eine besondere Nische, die durch Betreiben der Unternehmensmitarbeiter*innen organisch gewachsen sei (12).

Die Potenziale von Industriesymbiosen ergeben sich nicht automatisch und sie lassen sich nicht auf simple Art heben. Darauf weist Ralf Isenmann (13) hin. Industriesymbiosen erfordern Kooperation, Koordination, den Umgang mit Interessenkonflikten und mit Scheitern. „Projekt- und Praxiserfahrungen legen offen, dass oftmals einseitige Effizienzsteigerung und Nachhaltigkeitsorientierung auseinanderlaufen. Sie widersprechen einer weitläufigen Vorstellung, mehr Nachhaltigkeit sei stets und einfach durch Win-win-win-Situationen zu erreichen.“ (13)

Lokale und regionale Erfolgsfaktoren

© Gerd Altmann - pixabay.com

Das bestätigt auch Beckamp in seiner Auswertung aktueller Studien zur Industriellen Symbiose durch digitale Lösungen beispielweise zum Matching von In- und Outputs oder zum Einsatz von Blockchain-Technologie als Grundlage für sichere, zuverlässige und transparente Austauschplattformen. Der Forschungsstand lege nahe, dass es bei der Entwicklung industrieller Austauschbeziehungen wesentlich auf die jeweiligen 

  • lokalspezifischen institutionellen Faktoren
  • sozialen Gegebenheiten wie Vertrauen und Einbettung
  • vorantreibenden Akteure vor Ort

ankomme. 

„Kalundborg“ zeige zudem, wie das soziale Kapital bestehender symbiotischer Netzwerke eine Grundlage für deren Weiterentwicklung über Jahrzehnte bilden kann. „Im Industriepark Kalundborg stand in der Vergangenheit das Kohlekraftwerk im Zentrum der Symbiosen und bildete lange die Grundlage verschiedener Verbindungen innerhalb des Netzwerks."  Während der Ausstieg aus der Kohleverstromung am Standort im Vorfeld als kritischer Moment betrachtet wurde, zeige die Entwicklung heute, dass die Umrüstung zu einem Biomassekraftwerk erfolgreich durchgeführt werden konnte. „Seit 2018 ist weiterhin eine Biogasanlage Teil des Industrieparks und symbiotischen Netzwerks. So wird ersichtlich, dass auch stark von fossiler Energieerzeugung geprägte Netzwerke im Wandel bestehen und sich neuen Lösungen anpassen können.“ (2) - S.7

Neben den lokal ausgeprägten Industriesymbiosen können – so Beckamp - auch regionale Ansätze erfolgreich sein, wie die Pilotregionen des National Industrial Symbiosis Programme (NSIB) in Großbritannien gezeigt häten. Ein wichtiger Erfolgsfaktor sei die regionale Diversität der Unternehmen. Sie schaffe neue Möglichkeiten für Austauschbeziehungen, die innerhalb einzelner Wirtschaftszweige und Sektoren nicht beachtet werden und erst mit der Verknüpfung unterschiedlichster Unternehmen entstehen können.

Industriesymbiosen im Rheinischen Revier

© Rike - pixelio.de

In der Beschreibung des sog. Zukunftsfeldes „Ressourcen und Agrobusiness“ widmen die Autor*innen des „Wirtschafts- und Strukturprogramms 1.1.“ (7) für das Rheinische Braunkohlenrevier der stoffstromorientierten industriellen Symbiose ein eigenes Kapitel. 

Sie versprechen, mit der Betrachtung aller ressourcennutzenden Wirtschaftszweige und deren Stoffströme im Rheinischen Revier branchenübergreifende Sprunginnovationen zu heben (7, S. 69). Für den Ansatz einer Industriesymbiose seien im Rheinischen Revier die Land- und Forstwirtschaft, die Ernährungs-, Bau-, Chemie-, Kunststoff- und Textilwirtschaft, aber auch die Aluminium-, Papier- und Verpackungsindustrie hervorzuheben.

Das Thema Industriesymbiose spiele bisher in Deutschland eine eher untergeordnete Rolle. Im Vergleich zu anderen Ländern mangele es an Forschung und politischer Unterstützung - so Marius Beckamp in seiner Analyse. (2)

Erste Erfahrungen und Praxisbeispiele würden sich aus bereits bestehenden Beziehungen in Chemie- und Industrieparks ergeben.

Industrielle Symbiosen eignen sich besonders für altindustrielle Standorte wie z.B. Kraftwerksstandorte oder Industrieregionen, in denen bestehende Netzwerke, Infrastrukturen und stoffliche Verbindungen auch eine Grundlage für eine zielgerichtete Ansiedlungsstrategie bilden können. Daher betrachtet „SYMBIOTIQ“ Industriesymbiosen in den  - durch den kohleausstiegsbedingten Strukturwandel herausgeforderten -  Braunkohleregionen. Dort seien bereits heute Symbiosen zu entdecken:  

  • Energieintensive Unternehmen aus der Papier- oder Zementindustrie, die Prozessdampf oder Abwärme nachfragen, welche bei der Stromerzeugung in den fossilen Kraftwerken entstehen.
  • Herstellung von Porenbeton mit Hilfe der bei der fossilen Energieerzeugung entstehenden Flugasche
  • Bei der Rauchgasentschwefelung in Stein- und Braunkohlekraftwerken entstehender REA-Gips
  • Querverbindungen zwischen Papier- und Gipsindustrie
  • Abwärmenutzung zur Beheizung von Dörfern, Gewächshäusern oder Fischzuchten

Im Rahmen der Umstrukturierung und des Wandels an den Kraftwerksstandorten gelte es daher, frühzeitig zu überlegen, welche Abhängigkeiten und Verflechtungen bereits vor Ort bestehen und mit welchen Ansätzen an den Standorten Flächen und Ressourcen eingespart werden können.

Die regionale Strukturpolitik könne hier mit Blick auf Digitalisierung, Bioökonomie oder auf eine Energiewende mit zunehmend dezentraler Strom- und Wärmeerzeugung gestalterisch, koordinierend oder unterstützend ansetzen, meint Marius Beckamp.

Symbioseförderung durch konditionierte Neuausweisung für Gewerbeflächen seien ihm bei seinen Gesprächen mit den Akteuren im Rheinland bisher nicht begegnet, erklärt er gegenüber „Grenzlandgrün“ und kündigt gleichzeitig an, im Rahmen des SYMBIOTIQ-Projekts voraussichtlich bereits im Frühjahr 2022 Instrumente zu benennen, die sich dazu eignen, Industriesymbiosen im Bestand wie auch in der Neuplanung zu fördern. Solche Instrumente fehlen noch.

Transformationsinstrumente zwischen Marktkonformität und Postwachstum

© Michael Gaida - pixabay.com

Die alten Weltbilder, Vorentscheidungen und Regeln der Industriegesellschaft haben ihre Geltung verloren. Das Rheinische Revier steht mit dem Kohleausstieg vor der Transformation von einer dem fossilen Wirtschaftsmodell geprägten Region mit dem größten Masseneingriff Europas hin zu einer Region der postfossilen Gesellschaft, in die eine dem „guten Leben“ verpflichtete Wirtschaft eingebettet ist.

Dabei komme der Stadt- und Regionalplanung eine Schlüsselrolle als „Pioniere des Wandels zu, meint nicht nur der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. (14). Industriesymbiosen mit geschickten raumordnerischen Instrumenten anzureizen,  würde zudem gut zum europäischen Green deal,  zum Raumordnungsgesetz (ROG) oder zum NRW-Landesentwicklungsplan passen. Denn alle verpflichten die Planungsbehörden darauf,  eine nachhaltige Wirtschaftsstruktur zu verwirklichen, die langfristig wettbewerbsfähig und räumlich ausgewogen ist. (§ 2 Abs 2 - Grundsatz 4 ROG)

Dr. Reimar Molitor (Region Köln-Bonn e.V. und Vorsitzender des Revierknotens Internationale Bau- und Technologieausstellung) hält die Landes- und Regionalplanung für die Nulllinie des Strukturwandels.(15) 

Mit dem existierenden Planungsinstrumentarium sei der Strukturwandel allerdings nicht zu gestalten. Die Regionalräte in Düsseldorf und Köln als „demokratisch legitimierte und maßstäblich geeignete Parlamente“ sollten ihre Möglichkeiten ausdehnen und ausreizen und darüber diskutieren, wie die Instrumente ausgestaltet werden müssten, um eine nachhaltige klimagerechte Entwicklung im Revier voranbringen zu können. Es reiche nicht aus Förderbescheide auszugeben und „dann zu gucken was passiert.“ Man brauche eine qualitative Zielaussage. An die sei das Instrumentarium anzupassen (15).

Dafür müsse man sich wieder den Leitgedanken der Rio-Konferenz zur nachhaltigen Entwicklung 1992 annähern und grundlegende Transformationserkenntnisse Karl Polanyis (16) berücksichtigen, meint der Arbeitskreis „Nachhaltige Raumentwicklung für die große Transformation“ (17).

Er hat sich an der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) von 2016 bis 2020 mit den transformativen Herausforderungen, Barrieren und Perspektiven für Raumwissenschaften und Raumplanung beschäftigt und dazu einen 240-seitigen Forschungsbericht veröffentlicht (17), in dem er sich sowohl mit marktkonformer Planung als auch mit Suffizienzkonzepten der Postwachstumsplanung auseinandersetzt. 

Der Arbeitskreis fordert die Einrichtung eines „Transformationsministeriums für Landesentwicklung“ und von „Transformationsabteilungen“ in den Fachbehörden sowie eine entsprechende Anpassung der Regionalplanung um ergänzende, die Nachhaltigkeit fördernde Aufgaben. Erforderlich seien Managementansätze für Stoffströme, Kreisläufe und die Nicht-Inanspruchnahme von Fläche.(17)

Lokal passend und pragmatisch

© Nicolas Meletiou - pxabay.de

Klimawende, Flächenwende, Verkehrswende, Dekarbonisierung der Industrie… Die Zahl der Manifeste und großen Ideen ist mittlerweile unübersehbar. Ihre Geschichte reicht bis in die 1970er Jahre zurück. Umgesetzt wurden sie eher nicht. 

Nicht zuletzt der Bundestagswahlkampf 2021 hat gezeigt: Für die meisten Menschen sind solche Ideen Utopie. Selbst wenn sie eine „große sozial-ökologische Transformation“ für wünschenswert halten, sind sie noch nicht davon überzeugt, dass sie umsetzbar ist.

Vieles im Alltag der Menschen findet „vor Ort“ - d.h. lokal und regional - statt – und ist dort gestaltbar. Doch nur selten geht es bei der sozial-ökologischen Transformation oder bei der Dekarbonisierung der Industrie um lokale Akteure und um konkrete, kleinteilige Wege: Wer macht was bis wann mit welchem Ziel?

Die Industriesymbiose von Kallundborg zeigt: Erfolgreich sind lokal passende Lösungen, die pragmatisch mit den Menschen "vor Ort" gefunden worden. Identifizierung mit dem Neuen entsteht, wenn Menschen sich informiert fühlen und mitgestalten können, „Fridays for future“, „Transition town“, „Alle Dörfer bleiben“ „Fair trade town“ & Co – sie alle verbinden globale politische Ziele mit lokalem Engagement. Auch für sie gilt: Je konkreter die Maßnahmen, desto begreifbarer werden die politischen Interessenkonflikte.

Werden die Auseinandersetzungen um die 1,5 Grad-Grenze am Tagebaurand im teilzerstörten Lützerath im Rückblick mehr zum Strukturwandel im Rheinischen Revier beigetragen haben als all die vielen Projekte, die die Zukunftsagentur mit drei Sternen versehen hatte?

Das „Wunder von Kaldenborg ist nicht skalierbar“ und für "Altenlastenverwertung" gibt es noch keinen Markt… Es geht um Instrumente zur Förderung der Industriesymbiose im Rheinischen Revier. Reichen dazu marktwirtschaftliche Anreize oder stellt sich für die Regionalpolitik eine „Systemfrage“? Im Frühjahr 2022 gibt es Ergebnisse von "SYMBIOTIQ"...

Anmerkungen

1. [Online] [ zuletzt abgerufen am: 29. September 2021.] https://www.iat.eu/forschung-und-beratung/projekte/2019/symbiotiq-symbiotische-gewerbegebiete-nachhaltige-ansaetze-potentiale-fuer-die-strukturwandelregionen-sowie-moeglichkeiten-und-grenzen-der-uebertragbarkeit-auf-nutzungsgemischte-quartiere.html

2. Beckamp, Marius. Industriesymbiosen als Ansatz regionaler Kreislaufwirtschaft – Begriffsklärung & strukturpolitische Potentiale. Forschung Aktuell, Nr. 08/2021. [Online] [ zuletzt abgerufen am: 29. September 2021.] https://www.iat.eu/forschung-aktuell/2021/fa2021-08.pdf

3. Braungart, Michael; McDonough, William;. Cradle to cradle. Einfach intelligent produzieren. Berlin/München : Bloomsbury/Piper, 2003/2014. ISBN 978-3-492-30467-2.

4. Hein, Ursula. Carstens Stiftung. One Health als Konzept der Zukunft. [Online] 12. April 2021. [ zuletzt abgerufen am: 4. Oktober 2021.] https://www.carstens-stiftung.de/one-health-als-konzept-der-zukunft.html

5. Doyle, Ulrike; Schröder, Patrick; Schönfeld, Jens; Westphal-Settele, Kathi;. Umweltbundesamt. Was ist der One Health-Ansatz und wie ist er umzusetzen? [Online] November 2020. [ zuletzt abgerufen am: 4. Oktober 2021.] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/4031/publikationen/umid-02-20-one_health.pdf

6. Europäische Kommission. COM(2021) - 400 final. Auf dem Weg zu einem gesunden Planeten für alle - EU-Aktionsplan: „Schadstofffreiheit von Luft, Wasser und Boden“. [Online] 12. Mai 2021. [ zuletzt abgerufen am: 4. Oktober 2021.] https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:a1c34a56-b314-11eb-8aca-01aa75ed71a1.0003.02/DOC_1&format=PDF

7. Europäisches Parlament. Wie will die EU bis 2050 eine Kreislaufwirtschaft erreichen? [Online] 10. Februar 2021. [ zuletzt abgerufen am: 29. September 2021.] https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20210128STO96607/wie-will-die-eu-bis-2050-eine-kreislaufwirtschaft-erreichen

8. Forschung, Bundesministerium für Bildung und Deutsches Portal für Horizont Europa. [Online] [ zuletzt abgerufen am: 4. Oktober 2021.] https://www.horizont-europa.de/

9. Kern, Florian; Aretz, Astrid; Bluhm, Hannes; Hirschl, Bernd; Kliem, Lea; Rohde, Friederike; Stumpf, Kim Jana; Vogel, Christina; Rubik, Frieder: WWF Deutschland & Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Gute Beispiele für nachhaltiges sozial-ökologisches Wirtschaften in planetaren Grenzen. [Online] Dezember 2020.
[zuletzt abgerufen am: 30. September 2021.] https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/Innovation/WWF-IOEW-Studie-nachhaltigesWirtschaften.pdf

10. Herrmann, Rudolf. Neue Züricher Zeitung. Eine Symbiose von Gewinn und Gewissen. [Online] 13. Mai 2016. [ zuletzt abgerufen am: 29. September 2021.] https://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/daenemarks-industrie-cluster-kalundborg-eine-symbiose-von-gewinn-und-gewissen-ld.82293

11. Nachhaltigkeitsorientierte Weiterentwicklung von Industrie- und Gewerbeparks. Sterr, Thomas. 2, 2012, Uwf Umweltwirtschaftsforum, Bd. 20, S. 95-96.

12. Wehnert, Timon; Bönisch, Anna; Hermelingmeier, Verena; Schellhöh, Jennifer;. Retrospektive Fallstudienanalyse zu Einflussfaktoren auf den Verlauf von industriellen Transformationsprozessen . [Online] November 2016. [ zuletzt abgerufen am: 29. September 2021.] https://wupperinst.org/fa/redaktion/downloads/projects/VI_Transformation_AP2-1_Fallstudien.pdf

13. Isenmann, Rolf. Ökologisches Wirtschaften 3/2024 - Industrial Ecology. Kooperationen auf Wegwerfbasis - Industriesymbiosen. [Online] 28. August 2014. [ zuletzt abgerufen am: 5. Oktober 2021.] https://www.oekologisches-wirtschaften.de/index.php/oew/article/view/1360/1343

14. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globaler Wandel. Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation. Berlin: WBGU, 2011. ISBN 978-3-936191-38-7.

15. Bezirksregierung Düsseldorf. Aufzeichnung der 3. Sitzung des Ausschusses WS , TOP 5. [Online] 8. September 2021. [ zuletzt abgerufen am: 5. Oktober 2021.] https://www.brd.nrw.de/regionalratssitzungen/2021/tagesordnung-der-3-sitzung-des-ausschusses-fuer-wirtschaft-und

16. Polanyi, Karl. The great transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Wien/Berlin: Europa/Suhrkamp, 1944/1978. ISBN 978-3-518-27860-4.

17. Hofmeister, Sabine, Warner, Barbara, Ott Zora (Hg.). Akademie für Raumentwicklung in der Leibnizgesellschaft. Nachhaltige Raumentwicklung für die große Transformation. Herausforderungen, Barrieren und Perspektiven für Raumwissenschaften und Raumplanung. [Online] 2021. [ zuletzt abgerufen am: 5. Oktober 2021.] https://shop.arl-net.de/media/direct/pdf/fb/fb_015/fb_015-gesamt.pdf

18. Zukunftsagentur Rheinisches Revier / Zebralog. Bürgerbeteiligungscharta Rheinisches Revier. [Online] 31. März 2021. [ zuletzt abgerufen am: 30. September 2021.] https://www.wirtschaft.nrw/sites/default/files/asset/document/final_revier_charta.pdf

19. Zukunftsagentur Rheinisches Revier. Wirtschafts- und Strukturprogramm 1.1 für das Rheinische Zukunftsrevier. [Online] Juni 2021. [ zuletzt abgerufen am: 29. September 2021.] https://www.rheinisches-revier.de/media/wsp_1.1.pdf

20. Frosch, R.A. and Gallopoulos, N.E. (1989) Strategies for Manufacturing. Scientific American, 261, 144-152. https://doi.org/10.1038/scientificamerican0989-144


Gelsenkirchen-Erle, Piperline entlang der Emscher -Von Michielverbeek - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=72741667



 

E-Mail
Infos
Instagram