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28.03.2023

Dr. Antje Vollmer (1943 - 2023)

Gennaro Leonardi auf pixabay.jpgAntje Vollmer, die sanfte, gebildete, facettenreiche und kluge Mediatorin, die christlich geprägte Versöhnerin und Vermittlerin galt als zäh, standhaft und nervenstark. Sie gehörte zu den großen Politiker*innen und Intellektuellen, die nicht selten anecken, sich in einer Minderheitenposition wiederfinden oder zwischen allen Stühlen sitzen. 

Nicht wenige grüne Parteikolleg*innen empfanden sie als Nervensäge aus der Pastorenfraktion. Dennoch: Mit ihrer Standhaftigkeit hat Vollmer die grüne Partei als eine politische Kraft für eine gerechtere Welt geprägt. Für den TAZ-Redakteur Jan Feddersen verdient Vollmer „einen sehr prominenten Platz in der Hall of Fame der grünen Bewegung“. Denn die Partei habe ihr viel zu danken und „den einstigen Schmuddelkindern der Politik zu einer gewissen Respektabilität in der politischen Arena verholfen.“ (1)

Für Vollmer war Politik vor allem ein moralisches Anliegen. Sie litt bis zuletzt am pazifistischen Substanzverlust des Ende der 1970erJahre entwickelten grünen Zukunftsbündnisses aus Friedens- und Umweltbewegung. Spätestens seit dem Kosovo-Krieg empfand Antje Vollmer den grünen Bellizismus als die Niederlage ihres Lebens. Die Grünen waren für sie vor allem eine Friedenspartei, eine ökologische Partei und eine für die Menschenrechte. Ohne die Friedensbewegung und ohne den Pazifismus hätten es die Grünen nach der Analyse Vollmers niemals geschafft, in den Bundestag zu kommen. In der Tat: Petra Kelly und Joseph Beuys verkörperten Anfang der 1980er das charismatische Element, das die Grünen populär machte Wie würde Kelly wohl heute die ausweglos erscheinende Lage analysieren? Was würde sie tun? Antje Vollmer suchte bis zuletzt nach neuen Ansätzen für eine ökosoziale Bewegung, die die Spaltung zwischen den Menschen überwindet.

Als Bundeskanzler Schröder am 16. November 2001 die Frage der Beteiligung der Bundeswehr am „Krieg gegen den Terror“ aus taktischen Gründen mit der „Vertrauensfrage über sein Schicksal als Bundeskanzler“ verknüpfte, stimmte Antje Vollmer gegen ihre Überzeugung mit einem „Ja“ zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan.

Dieser Tag war alles andere als ein Glanzlicht des deutschen Parlaments. Wer für den Militäreinsatz war, stimmte gegen ihn. Wer den Militäreinsatz aus sachlichen und moralischen Gründen für falsch hielt, stimmte dafür, um das vermeintliche rot-grüne Reformprojekt nicht zu gefährden. Am 14. März 2003 hielt Gerhard Schröder seine Agenda 2010-Rede, die den Startschuss für die Hartz-Reformen zum Abbau von Sozialleistungen gab.  Anfang März 2023 scheiterte ein Parteiausschlussverfahren gegen Schröder…

„Es gibt keine Geschichte ohne unser Interesse an ihr. Welche Auswahl aber trifft unser Interesse, das der Gegenwart verhaftet ist? Wissen wir schon, was wir finden? Finden wir nur, was wir suchen?“, schrieb Antje Vollmer im Vorwort zu ihrem Buch „Doppelleben“ (2)…

Max Klein und Roland Appel haben zwei lesenswerte Nachrufe auf Antje Vollmer veröffentlicht, der eine am 27. März 2023 im „Blättchen“ (3) der andere am 16. März 2023 im „Beueler Extradienst“ (4) Beide Nachrufe sind von vielen persönlichen Begegnungen geprägt.

Der ehemalige Grünen-Politiker Roland Appel gesteht, dass auch er nie so ganz mit Antje Vollmers Positionen „warm werden“ konnte, obwohl er sie seit 1986 kannte. „Und ich weiss, dass es vielen anderen, die jahrelang eng mit ihr zusammen gearbeitet haben, ebenso ging.“ (4)

Daher beschreibt Appel - anders als Klein - Antje Vollmer auch als eine harte Machtpolitikerin und lausige Köchin. Er schildert die Rivalitäten zwischen ihr und den damaligen Platzhirschen Otto Schily. Er erinnert an Bonner Feminat, das die Männerwelt des Bonner Bundestags aufmischte oder die umstrittene Initiative „Aufbruch“, die ein Auseinanderbrechen der Partei in grüne Fundis und Realos verhindern wollte. Gespräche zwischen ihr und Oskar Lafontaine trugen zu einem rot-grünen Konzept bei,  endeten 1990 bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen aber nicht mit einer rot-grünen Bundesregierung. Stattdessen flogen die Grünen aus dem Bundestag und Antje Vollmer wurde nicht Ministerin, sondern TAZ-Journalistin.

Einig sind sich nicht nur Klein und Appel, dass Antje Vollmer eine „Menschenfängerin“ war. Appel bewundert, dass sie selbst den knorrigen Realo-Vordenker Udo Knapp „zu kreativen Höchstleistungen“ motivieren konnte (4). Appel und Klein verweisen auf Vollmers Dialoginitiative zwischen der Roten Armee Fraktion (RAF) und den Strafverfolgern, die letztlich zur gewaltlosen Abrüstung in den „geistigen Bunkern“ beider Seiten führte.

Klein geht auf Vollmers Rolle in der deutsch-tschechischen Versöhnung und auf Vollmers Streben nach einer Vereinigung von Politik, Kultur und Öffentlichkeit ein. Vollmer versuchte immer, ohne ein Freund-Feind-Schema den Gründen für menschliches Handeln nachzugehen. Dafür erhielt sie 2003 den Tomáš-Garrigue-Masaryk-Orden (3. Klasse).  Er ist eine der höchsten staatlichen Auszeichnungen der Tschechischen Republik.

„Antje Vollmer wurde durch die Erfahrungen ihres Lebens, auch ohne Amt, zu einer großen Politikerin, um die auch jene trauern werden, die sie weniger verstanden. Sie war eine große Aufklärerin, die nicht nur politisch, sondern auch literarisch herausragt.“, schreibt  Max Klein (3) Er belegt dies mit Hinweisen auf Vollmers Buch „Doppelleben“ (2). Dort rekonstruiert sie die Familiengeschichte von Heinrich und Gottliebe von Lehndorff aus Ostpreußen, die im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop ihr Leben und das ihrer Angehörigen einsetzten. 

Mit Hans-Eckart Wenzel veröffentlichte sie Bücher über die Regisseure Rainer Werner Fassbinder (BRD) und Konrad Wolf (DDR) (5). Darüber führten sie am 21. März 2022 ein öffentliches Gespräch in der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz bei Berlin. (5) 

Kleins Fazit: „Der Zauber der Antje Vollmer besteht in ihrer Kultur und stillen Unabhängigkeit.“ (3) Diesem Zauber kann man seit dem 15. März 2023 nur noch mittelbar per Video nachspüren. (6)

Kurz vor ihrem Tod veröffentlichte die Berliner Zeitung (7) Vollmers letzten Text, den sie als politisches Vermächtnis verstanden wissen wollte und der an den Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ (8) anschloss. Vollmer setzt sich darin mit der „Schwurformel von der Zeitenwende“ und der Tragödie des Ukraine-Kriegs auseinander. Sie widerspricht darin „der heute üblichen These, 1989 habe es eine etablierte europäische Friedensordnung gegeben, die dann Schritt um Schritt einseitig von Seiten Russlands unter dem Diktat des KGB-Agenten Putin zerstört worden sei, bis es schließlich zum Ausbruch des Ukrainekrieges kam.

Vollmers Perspektive ist eine andere. Nachdem 1989 die „Pax atomica“ zerbrochen sei, habe die visionäre Phantasie Europas und des Westens nicht ausgereicht, „um sich das haltbare Konzept einer stabilen europäischen Friedensordnung auszudenken, das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen Platz verlässlicher Sicherheit und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte.“

Stattdessen sei mit westlicher Hybris der Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem Sieg im Systemkonflikt erklärt und das einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow „mit einer verblüffenden Arroganz als gerngesehenes Geschenk der Geschichte eingeordnet“ worden. Vollmer hält es für eine Fehlinterpretation, die nahezu gewaltfreie Auflösung des sowjetischen Imperiums durch „die Helden des Rückzugs“ (Hans Magnus Enzensberger) als Schwäche des Systems zu deuten. Heute werde stattdessen der Anteil am Verdienst der Gewaltfreiheit auf sowjetischer Seite heruntergeredet - mit einem Hang zum Heroischen, zur Selbsterhöhung und zum Nationalchauvinismus.

Vollmer plädiert stattdessen für „die Kunst der Selbstbegrenzung, der friedlichen Nachbarschaft, der Fairness, der Wahrung gegenseitiger Interessen und des Respektes voreinander. […] Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planenten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“ (7)

Nach der Lektüre dieses Essays fragte sich nicht nur Heribert Prantl: „Wie sähe die deutsche Außenpolitik aus, wenn nicht Annalena Baerbock, sondern ihre grüne Parteifreundin Antje Vollmer Außenministerin wäre? Welche deutsche Beteiligung am Ukraine-Krieg hätte Vollmer gebilligt? Wie hätte ihre Nothilfe für das überfallene Land ausgesehen? Und welche diplomatischen Initiativen würde sie als Ministerin betreiben, um einen Weg zum Frieden zu finden?“ (9)

Auch wenn er es für unfair hält, Vollmers Leben mit dem „unserer unerfahrenen Außenministerin“ zu vergleichen, formuliert Max Klein eine Antwort auf Prantls hypothetische Fragen: „Die Bundesrepublik Deutschland hätte eine Außenministerin gehabt, klar in ihrem Urteil und gelebten „Werten“, die wohl hätte vermitteln können, da sie weder sich selbst, noch auch üble Konfliktparteien durch vorlaute Worte desavouiert hätte.“ (3)

Verweise

1. Feddersen, Jan. Streitbare Pazifistin. [Online] 16. März 2023. https://taz.de/Nachruf-auf-Antje-Vollmer/!5919054/

2. Vollmer, Antje. Doppelleben. Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop. 2010. ISBN 978-3-8218-6232

3. Klein, Max. Antje Vollmer, Salut. Das Blättchen. [Online] 27. März 2023. https://das-blaettchen.de/2023/03/antje-vollmer-salut-65268.html

4. Appel, Roland. Eine gewaltige, leise Stimme, die fehlen wird. Beueler Extradienst. [Online] 18. März 2023. https://extradienst.net/2023/03/18/eine-gewaltige-leise-stimme-die-fehlen-wird/

5. Antje Vollmer und Wenzel im Gespräch über Konrad Wolf. You tube. [Online] 2. April 2022. https://www.youtube.com/watch?v=Uw8NhF0IbSU

6. [Online] https://antje-vollmer.de/video.htm

7. Vollmer, Antje. Was ich noch zu sagen hätte. Berliner Zeitung. [Online] 23. Februar 2023. https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ein-jahr-ukraine-krieg-kritik-an-gruenen-antje-vollmers-vermaechtnis-einer-pazifistin-was-ich-noch-zu-sagen-haette-li.320443

8. Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen! Zeit-online. [Online] 5. Dezember 2014. https://www.zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-dialog

9. Prantl, Heribert. Was, wenn statt Baerbock Antje Vollmer Außenministerin wäre? Infosperber. [Online] 28. Februar 2023. https://www.infospe … senministerin-waere/

10. Brie, Michael: Hass und Krieg verlernen. Ein Nachruf auf Antje Vollmer. Rosa-Luxemburg-Stiftung. 17. März 2023. https://www.rosalux.de/news/id/50135/hass-und-krieg-verlernen

Grenzlandgruen - 11:49 @ Akteure und Konzepte | Kommentar hinzufügen

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