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31.12.2022
Über den Abstand zwischen Mensch und Natur
Der Natur- und Artenverlust ist größtenteils auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Erforderlich sei daher ein grundlegender Richtungswechsel. Die Menschheit soll 2050 die Biodiversität wiederhergestellt haben, in Harmonie mit der Natur leben und einen gesunden Planeten erhalten. So haben es die Vereinten Nationen am 19. Dezember 2022 in ihrer Kunming-Montreal Rahmenvereinbarung zur globalen Biodiversität erneut beschlossen (1). Zuvor wurden nahezu alle vereinbarten Biodiversitätsziele gerissen. Die Aichi-Vereinbarung zur Biodiversitätsstrategie 2011 – 2020 gilt als gescheitert. (2)
Menschheitsprobleme scheinen unlösbar zu sein, weil es die Menschheit als politische Akteurin nicht gibt. Es gibt arme und reiche Menschen, Täter und Opfer, Ausbeuter und Ausgebeutete, Nutznießer und Verlierer, es gibt geostrategische Interessen, Wettbewerbsdenken, Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste…
Solange sich Menschen als getrennt von der Natur und nicht als Teil der Evolution betrachten, gibt es problematische Beziehungen. Das zeigen zum Beispiel die Diskussionen um Brand-, Dürre- oder Hochwasserkatastrophen, die im Konvergenzbereich zwischen Natur und Kultur liegen. Bis heute gibt es keinen Konsens, ob die Natur eher als Täterin, Rächerin, Störerin oder Opfer menschengemachter Verhältnisse zu betrachten ist. Manche Naturereignisse widerstreben dem Narrativ von der guten und schützenswerten Natur. Ein anderes Beispiel ist ein Wirtschaftssystem, das die innere und äußere Natur des Menschen als kostenfreie Ressource nutzt und sie damit beeinträchtigt.
Es kommt auf die emotionalen Bindungen zur Natur an, die jeder Einzelne hat. Und die hängen mit der direkten und indirekten Naturerfahrung und dem daraus gewonnen Wissen zusammen. Die Naturerfahrung gehe zurück, die Entfremdung zwischen Mensch und Natur wachse. Das sind weit verbreitete und plausible Annahmen. Doch die sind empirisch wenig belegt.
Dabei sei es essenziell, zu wissen, wie sich die Menschen mit der Natur beschäftigen, sagt Dr. Victor Cazalis, Postdoktorand am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDFIV) und an der Uni Leipzig. „Denn davon hängt ab, welche Beziehung wir zur Natur haben und wie wir mit ihr umgehen“. Sein Ziel: „Wir müssen eine gute Verbindung zur Natur aufrechterhalten, um die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen möglich zu machen.“ (3)
Cazalis hat sich gemeinsam mit einem deutsch-französischen Forscherteam in einer Metastudie auf die globale Suche nach empirischen Studien zur menschlichen Naturerfahrung (Experience of nature -EoN) im zeitlichen Verlauf gemacht. (4) Die Forschenden fanden dazu nach intensiver Sichtung und Auswertung lediglich 18 Studien überwiegend aus den USA, aus Japan und Europa. Insgesamt sei die empirische Untersuchungslage zur Entwicklung der Mensch-Natur-Interaktionen eher dürftig und wenig systematisch, stellen die Forschenden fest. Trends der Naturerfahrung seien auf dem halben Globus noch unerforscht. Zudem hängen die Mensch-Natur-Interaktionen von wirtschaftlichen und räumlichen Situationen und unterschiedlichen Lebensweisen ab.
Schwerpunkt der Metaanalyse waren die Veränderungen der zeitlichen Dimension von Naturerfahrung. Die untersuchten Studien bezogen sich zum Beispiel auf Analysen zur durchschnittlichen Entfernungsveränderung zwischen dem Wohnort eines Menschen und dem nächstliegenden naturnahen Gebiet, zur Entwicklung des Baumbestands in den Städten, zur Häufigkeit von Naturerlebnissen und Campingaktivitäten oder zur wandelnden Blumenkenntnis japanischer Kinder.
Fazit der Autoren und Autorinnen: Es gibt Hinweise darauf, dass die menschliche Naturerfahrung weltweit abnimmt oder dass die Naturpräsenz in Kulturprodukten global eher rückläufig ist. Es gibt aber vor allem einen dringenden Forschungsbedarf zu den globalen Trends bei der menschlichen Naturerfahrung.
Während etliche Beispiele auf einen Rückgang der Naturbezüge hindeuten, stagnieren andere Interaktionen oder nehmen sogar zu. So erfreuen sich Dokumentationen über Wildtiere oder Videospiele mit Wildtieren größerer Beliebtheit als noch vor einigen Jahren. „In den letzten Jahrzehnten sind über digitale Medien sicherlich neue Möglichkeiten entstanden, sich mit der Natur auseinanderzusetzen“, sagt die Mitautorin der Studie Dr. Gladys Barragan-Jason. Mehrere frühere Studien zeigten jedoch, dass die indirekten und Naturerlebnisse das menschliche Naturverbundenheitsgefühl weniger fördern als direkte Naturerlebnisse, unterstreicht die Expertin für Mensch-Natur-Interaktionen. (3)
Doch solche direkten Naturerlebnisse sind nicht leicht zu verwirklichen. Denn die Menschen leben tendenziell immer weiter von Naturgebieten entfernt, wie Cazalis und sein Team ermittelt haben. Durchschnittlich beträgt die Entfernung zwischen Wohnung und dem nächsten Naturgebiet 9,7 Kilometer – sieben Prozent mehr als noch im Jahr 2000. In Europa und Ostasien ist diese Entfernung am größten. In Deutschland liegt sie bei durchschnittlich 22 Kilometern.
Verweise
1. UN enviroment programme. Kunning-Montreal Global biodiversity framework. Draft decision submitted by the President. [Online] 18. Dezember 2022. https://www.cbd.int/doc/c/e6d3/cd1d/daf663719a03902a9b116c34/cop-15-l-25-en.pdf
2. Grenzlandgrün-Blog. UN-Naturschutzabkommen verabschiedet. [Online] 19. Dezember 2022. https://www.grenzlandgruen.de/Blog;focus=TKOMSI_com_cm4all_wdn_Flatpress_22892279&path=?x=entry:entry221219-213136#C_TKOMSI_com_cm4all_wdn_Flatpress_22892279__-anchor
3. iDiv und Universität Leipzig. Mensch und Natur: Der Abstand wird größer. [Online] 14. Dezember 2022. https://www.idiv.de/de/news/news_single_view/5043.html
4. Victor Cazalis, Michel Loreau, Gladys Barragan-Jason u.a. A global synthesis of trends in human experience of nature. Frontiers in ecology and the environment. [Online] 14. Dezember 2022. https://esajournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/fee.2540
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