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11.06.2025
Euro: Aufrüstung und Geldpolitik
Bilaterale Machtspiele statt multilateraler Zusammenarbeit. Protektionismus statt Offenheit. Das globale Wirtschafts- und Währungssystem der Nachkriegszeit steht unter Druck. Die Macht des Westens schrumpft. Und das birgt erhebliche Risiken für den europäischen Wohlstand. Über 30 Millionen Arbeitsplätze und fast 20% des Bruttoinlandsprodukts der EU hängen derzeit von einem funktionierenden Welthandel ab. (1) Die Betriebe in vielen NRW-Kommunen sind stark von internationalen Lieferketten und vom Export abhängig.
Länder und Regionen (z.B. China, Russland, BRICS) wollen sich vom US-Dollar entkoppeln und eigene Währungsräume schaffen. Wie lange gilt der US-Dollar noch als ein zentrales Zahlungsmittel im Welthandel, als Devisenreserve, als Referenzwährung für Rohstoffe?
Welche Rolle sollte Europas Wirtschafts- und Währungssystem in dieser neu fragmentierten Welt spielen? - Dieser Frage widmete sich Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank in einer Grundsatzrede mit anschließender Diskussion am 26. Mai 2025 an der Berliner Friedrichstraße. Dazu eingeladen hatte das zur privat finanzierten Hertie School gehörende Jacques Delors Centre, das sich der Forschung und Politikberatung widmet. (2)
Lagarde zog Ihre Schlussfolgerungen für eine europäische Wirtschafts- und Währungspolitik aus der Geschichte des internationalen Währungssystems (3) Seit 1945 habe die Weltwirtschaft von multinationaler Zusammenarbeit in einem internationalen System unter US-amerikanischer Führung und dem Dollar als Weltreservewährung profitiert. Noch immer bestehen 58% der globalen Devisenreserven aus US-Dollars. Das sei jedoch der niedrigste Anteil seit 1994. Die Anteile des Euro und des Goldes liegen bei jeweils 20%. Die anhaltenden Veränderungen eröffneten – so Lagarde - die Möglichkeit eines „globalen Euro-Moments“. Um den Euro- Anteil bei den Devisenreserven wachsen zu lassen, müsse die EU ihre geopolitischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Grundlagen stärken.
Der Binnenmarkt für Waren und Kapital müsse intensiviert und reformiert werden. Lagarde: „Natürlich muss jedes Land sicherstellen, dass seine nationale Politik das Wachstum fördert. Wir müssen aber auch vor einer selbstzerstörerischen Fragmentierung auf der Hut sein. Wir sind uns beispielsweise alle einig, dass Europa seine strategischen Industrien ausbauen muss, um übermäßige Abhängigkeiten zu vermeiden – wie Mario Draghi und Enrico Letta in ihren jüngsten Berichten betonten. Mit 27 unterschiedlichen Politiken für diese Industrien werden wir jedoch keinen Erfolg haben.“
Den Vorteil strategischer und wirtschaftlicher Allianzen betonte Lagarde auch am 11. Juni 2025 in Peking. Anlass war die Unterzeichnung eines Memorandum of Understanding über die Zusammenarbeit im Bereich des Zentralbankwesens in der Pekinger People’s Bank of China. (4) Wenn die geopolitischen Interessen nicht vollständig übereinstimmen, nehme der Anreiz zur Zusammenarbeit ab. Doch die Kosten der Nichtkooperation würden steigen. „Wenn wir minderwertige Ergebnisse vermeiden wollen, müssen wir alle darauf hinarbeiten, die globale Zusammenarbeit in einer fragmentierten Welt aufrechtzuerhalten. […] Wenn wir unseren Wohlstand wirklich bewahren wollen, müssen wir kooperative Lösungen anstreben – auch angesichts geopolitischer Differenzen. (5)
Um das weltweite Vertrauen in den Euro zu erhalten, müsse die EU Ihr Engagement für Rechtsstaatlichkeit und vorhersehbare Politikgestaltung in einen Wettbewerbsvorteil umwandeln, und zwar durch eine Reform der institutionellen Struktur, die z.B. qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ermöglicht.
Europa sei heute Teil des umfangreichsten Netzwerks an Handelsabkommen. Es unterstütze einen Win-Win-Ansatz. Der US-Dollar zeige jedoch, dass die Dominanz einer Reservewährung nicht nur ein Produkt aus wirtschaftlichen Fundamentaldaten sei. Die Verstärkung durch militärische Sicherheitsgarantieren, durch „Hard Power“ sei Voraussetzung für geopolitische Glaub- und Vertrauenswürdigkeit und damit für eine breitere Nutzung des Euro. Bei den gemeinsamen Investitionen in Rüstung gehe es daher um ein europäisches öffentliches Gut.
Damit verbindet Lagarde ihre Geldpolitik mit den Beschlüssen zur europäischen Verteidigung, die der Europäische Rat am 6. März 2025 getroffen hat (6) und die im Weißbuch zur europäischen Verteidigung (7) und im Plan „ReArm Europe“ ausformuliert wurden. (8) Es geht um mindestens 800 Milliarden Euro Schulden in den nächsten vier Jahren.
In einem Essay fassen der Wirtschaftssoziologe Prof. Dr. Aaron Sahr und sein Mitarbeiter Florian Schmidt Lagardes Analyse so zusammen: „Sich eine gewichtigere globale Position zu verdienen, das heißt für den Euro, schießen zu lernen.“ Mit dem Heranziehen von qualifizierenden Vokabeln wie „belastbar“, „hart“, oder „robust“ verweise Lagarde darauf, „dass eine Handelsdiplomatie, die den Aufbau von Wertschöpfungsketten in der eigenen Währung mit Sicherheitsgarantien verbindet, nicht nur auf Einsatzfähigkeit, sondern auch auf Einsatzbereitschaft und deren Demonstration angewiesen ist.“ (9)
Was folgt aus der Verbindung von Aufrüstung und Geldpolitik? Während Lagarde von Sicherheitsgarantien in Militärallianzen spricht, betonen Sahr und Schmidt, dass der Aufstieg des US-Dollars zur Weltwährung nicht ohne die Weltkriege erklärt werden könne. Sie fragen sich, was Lagardes „Hard Power“ für den Euro in der Praxis bedeuten könnte, verweisen auf den Zusammenhang der Geld- mit der Energiefrage und halten es jedoch nicht für ausgeschlossen, dass es in Zukunft gar keine global dominierende Währung mehr gibt. Leitwährungen würden sich dann allenfalls innerhalb geopolitischer Blöcke etablieren lassen.
Wie robust sollen angesichts dieser Deglobalisierungstendenzen die sicherheitspolitischen Kapazitäten für einen starken globalen Euro sein? Wo und wie wird die Zukunft des Euro verteidigt? Welche Rolle wird er für Welthandel und europäischen Wohlstand spielen? Leitwährung, multipolare Währungsordnung oder digitale Zentralbankwährungen – wie sieht die Zukunft globaler Zahlungsmittel aus? „Würden wir für den Euro in den Krieg ziehen?“ (9)
Wird sich eine neue von Vielfalt geprägte Welthandelsordnung entwickeln? Wird sich die EU auch mit Hard Power als ein nachhaltiger Innovationsstandort behaupten, indem sie geopolitisch geschickte Allianzen schmiedet, ihre Abhängigkeiten konsequent reduziert und ausbalanciert, Produktionsschritte und Infrastruktur ökosozial erneuert und in Kreisläufen wirtschaftet? Oder wird sie sich „erst einmal“ wegen der wettbewerbsstärkenden Versorgungssicherheit in einer verlängerten fossilen Übergangszeit auf 1,5 Billionen Kubikmeter Frackinggas aus der Ukraine verlassen? (10)
Verweise
1. Eurostat. : Employment and value added in EU exports - an analysis with FIGARO data. [Online] Juli 2024. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Employment_and_value_added_in_EU_exports_-_an_analysis_with_FIGARO_data
2. Hertie School - Jacques Delors Centre. Spotlight auf Christine Lagarde: Ein Appell für ein stärkeres Europa und einen globaleren Euro an der Hertie School. [Online] 26. Mai 2025. https://www.delorscentre.eu/de/ueber-uns/neues/detail/content/spotlight-on-christine-lagarde-a-call-for-stronger-europe-and-a-more-global-euro-at-the-hertie-school
3. Lagarde, Christine. Earning influence: lessons from the history of international currencies. Speech by Christine Lagarde, President of the ECB, at an event on Europe’s role in a fragmented world organised by Jacques Delors Centre at Hertie School in Berlin, Germany. ECB. [Online] 26. Mai 2025. https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2025/html/ecb.sp250526~d8d4541ce5.en.html
4. European Central Bank. ECB and People’s Bank of China sign Memorandum of Understanding on cooperation. [Online] 11. Juni 2025. https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2025/html/ecb.pr250611~0299725664.en.html
5. Lagarde, Christine. Drawing a common map: sustaining global cooperation in a fragmenting world. Speech by Christine Lagarde, President of the ECB, at the People’s Bank of China in Beijing. [Online] 11. Juni 2025. https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2025/html/ecb.sp250611~8936f0665d.en.html
6. Europäischer Rat der Europäischen Union. Außerordentliche Tagung des Europäischen Rates. [Online] 6. März 2025. https://www.consilium.europa.eu/de/meetings/european-council/2025/03/06/
7. Europäische Kommission. Gemeinsames Weißbuch zur europäischen Verteidigung. [Online] 19. März 2025. https://dserver.bundestag.de/brd/2025/0156-25.pdf
8. Europäische Kommission. Zur Zukunft der europäischen Verteidigung: Weißbuch und ReARM-Europe. [Online] 19. März 2025. https://germany.representation.ec.europa.eu/news/zur-zukunft-der-europaischen-verteidigung-weissbuch-und-rearm-europe-2025-03-19_de
9. Sahr, Aaron; Schmidt, Florian. Der Euro soll schießen lernen. Wie die Präsidentin der Europäischen Zentralbank die Aufrüstungsdebatte um ein geldpolitisches Argument erweiterte. Soziopolis. [Online] 5. Juni 2025. https://www.soziopolis.de/der-euro-soll-schiessen-lernen.html
10. Ukraine Business News. Die Ukraine sucht private Investoren für das Fracking von Erdgas in revolutionärem Umfang. [Online] 11. Juni 2025. https://ubn.news/de/die-ukraine-sucht-private-investoren-fuer-das-fracking-von-erdgas-in-revolutionaerem-umfang/
Grenzlandgruen - 20:42 @ Europa, Region, Wirtschaft und Finanzen | Kommentar hinzufügen
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