GRENZLANDGRÜN   
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Donnerstag, 7. August 2025

Kommunalwahl 2025: Über Buchhalterfiktionen und ein Ende der Bettelwirtschaft

Miriam Auner, Bernd Bedronka, Dietmar Brockes, Joachim von Contzen, Christoph Dellmanns, Frank Gellen, Bennet Gielen, Jörg-Otto von Gierke, Andreas Gisbertz, Marco Goertz, Christoph Hopp, Marcel Johnen, Athanasios Koletsas, Tobias Kriegers, Christian Küsters, Anja Lambertz, Herbert Meiers-Fischer, Dr. Endikat Morten, Matthias Nitsche, David Nowak, Christian Pakusch, Claudia Poetsch, Roland Günter Rast, Thomas Ricker, Annalena Rönsberg, Maja Roth-Schmidt, Kevin Schages, Silvia Schmidt, Peter Schmitz, Dr. Kristian Schneider, Stefan Schumeckers, Hajo Siemes, Jürgen Vonken, Marion Weißkopf, Dr. Jens-Christian Winkler und Dirk Zilz – Sie alle sind mutige und zuversichtliche Menschen im Kreis Viersen, denn sie wollen als Bürgermeister oder Bürgermeisterin eine Stadt oder Gemeinde des Kreises Viersen oder als Landrätin oder Landrat die Kreisverwaltung ins Bilanzjahr 2030 leiten.

Werden in fünf Jahren die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele erreicht sein? Wird der Endenergieverbrauch um mindestens 11,7% gesenkt, der Anteil erneuerbarer Energie im Gesamtsystem mindestes 42,5,% betragen? Wie wird es um das Armutsrisiko im Alter stehen? Werden sich die Ökosysteme in einem Prozess der Renaturierung befinden? Wie wird der Stand beim Null-Schadstoff-Ziel oder der Reduktion der Treibhausgasemissionen sein? Wird 2030 der Anteil des Ökolandbaus auf 20% gestiegen sein? Noch liegt er NRW-weit bei 6,1% und auf den eher intensiv genutzten Agrarflächen des Kreis Viersen wahrscheinlich weit darunter. Wie werden die Bürgermeister*innen in den neun Städten und Gemeinden mit den im Kreis Viersen überdurchschnittlich vielen Bürgerinnen und Bürgern über 80 umgehen? Was werden sie tun, wenn auch nur eins der derzeit diskutierten Kriegsszenarien eintritt, die fossilen Energiepreise explodieren, die globalen Lieferketten reißen, neue Fluchtbewegungen entstehen und es noch mehr Cyberangriffe und Desinformationskampagnen geben wird... ?

Selbst wenn die härtesten Krisenszenarien nicht eintreten, bleiben den Bürgermeister*innen im Kreis Viersen die Haushaltsdefizite und Investitionsstaus, die steigenden Kosten und der demografische Wandel, der absehbare Fachkräftemangel in den Rathäusern, die Vorsorgemaßnahmen gegen Starkregen und Hitzeperioden, die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes. Allein das ist keine einfache Herausforderung.

Kommunen haben einen Gemeinwohlauftrag und sind das Rückgrat der öffentlichen Daseinsvorsorge. Sie sind standortgebunden und müssen in ihren Dienstleistungen von der Schule, über das Trinkwasser bis zum Katastrophenschutz hinreichend verlässlich sein. Das ist in Zeiten des Klimawandels und der gesellschaftlichen Veränderungen eine besondere Herausforderung und mit enormen Investitionsnotwendigkeiten verbunden: ansprechende Häuser und Gebäude, barrierefreie Einrichtungen, eine sichere Umgebung, gesunde Luft, Grünflächen und Natur, ausreichendes und sauberes Wasser, aktive Mobilität, gute Ernährung, Sport und Bewegung, Spiel und Entspannung sowie weitere Aktivitäten, die das Wohlbefinden der Einwohnerinnen und Einwohner fördern. Auch Klimaresilienz und ein reges, an nachhaltigen Stoffkreisläufen orientiertes Wirtschaftsleben sind für den kommunalen Wohlstand nicht unbedeutend.

Kommunale Wertschöpfung und das BIP

Auf kommunalem Grund und Boden wird das Bruttoinlandsprodukt zu 100% erwirtschaftet. Es gibt kein Niemandsland in Deutschland, aber rund 4.050 Quadratkilometer sog. gemeindefreier Gebiete. Staatsforsten, Truppenübungsplätze oder Küstengewässer tragen nicht unmittelbar zum BIP bei. Die betriebswirtschaftlichen Wertschöpfungen der Holzwirtschaft oder der Offshore-Windenergie werden in der Regel an kommunal verankerten Firmensitzen bilanziert.

Bundesweit sind dadurch im Jahre 2024 rund 4,3 Billionen Euro (1) wertgeschöpft worden. Davon erhielten die arbeitenden Menschen rund 54,6 % und die Kommunen rund 2,9%. (2) Dazu gesellen sich für die Kommunen noch eigene Einnahmen z.B. aus der Grund- und Gewerbesteuer. Die Kern- und Extrahaushalte der Städte und Gemeinden (ohne Stadtstaaten) in Deutschland wiesen im Jahr 2024 ein Finanzierungsdefizit von 24,8 Milliarden Euro auf. (2) Dies gilt als das höchste seit der deutschen Vereinigung im Jahr 1990. Gegenüber dem Jahr 2023 sei – so das Statistische Bundesamt - das Defizit deutlich gewachsen. Damals habe es 6,6 Milliarden Euro betragen. Doch handelt es sich dabei um tatsächliches Geld oder um buchhalterische Defizite?

Im Kreis Viersen melden Tönisvorst, Kempen, Brüggen, Grefrath und Viersen finanzielle Risiken. Grefrath steht unter einem Haushaltsicherungskonzept (HSK). Die Gemeinde kann ihre laufenden Ausgaben nicht mehr durch eigene Einnahmen decken und steht unter finanzaufsichtlicher Kontrolle des Kreises Viersen.
Im Jahr 2024 seien bundesweit 6,2 % der kommunalen Ausgaben nicht durch reguläre Einnahmen gedeckt gewesen, sondern hätten aus finanziellen Reserven oder durch die Aufnahme von Krediten finanziert werden müssen. (3)

Die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Kommunen sind zu einem Dauerproblem geworden. Das System des kommunalen Finanzausgleichs (4) gerät an seine Grenzen. Eine erhebliche Zahl der Kommunen kann selbst ihre Pflichtaufgaben kaum noch erfüllen. Für dringend notwendige Investitionen mangelt es an finanzieller Ausstattung. Der kommunale Gestaltungsraum geht gegen Null. (3) Die Bürgermeister*innen werden sich nach der Kommunalwahl womöglich eher mit Personalaufwendungskonsolidierungskonzepten und anderen vermeintlichen Einsparmöglichkeiten beschäftigen müssen als mit Nachhaltigkeit und dem Wohlbefinden ihrer Einwohner und Wählerinnen.

„Knappe Kassen, große Aufgaben“- So hat die 1977 gegründete, ideologisch umstrittene, als gemeinnützig anerkannte, aber dennoch mit dem einflussreichen Gütersloher Medienkonzern eng verflochtene Bertelsmann-Stiftung ihren kommunalen Finanzreport 2025 überschrieben. (3)

Vor allem mit den Zahlen des Statistischen Bundesamtes stellt der Report die aktuelle Finanzlage im zeitlichen und regionalen Vergleich dar. Anders als früher seien nicht die kommunalen Einnahmen das Problem. Trotz unterschiedlicher Steuerkraft und trotz wirtschaftlicher Stagnation seien sie bundesweit um fünf Prozent angeschwollen. Sie hätten jedoch nicht die gestiegenen Ausgaben für Personal und den Sachaufwand ausgleichen können. Ein Riesenposten seien dabei seien die Sozialausgaben. Die kommunalen Investitionskredite seien seit 2021 um 40% gestiegen. Problematisch seien die besonders in NRW stark wachsenden Kassenkredite zur kurzfristigen Sicherstellung der Liquidität. Sie ähneln dem Dispokredit der Privatpersonen (5).

Bis auf Thüringen würden alle Flächenländer ein negatives kommunales Finanzierungssaldo je Einwohner*in ausweisen. Am größten sei es in Hessen mit 499 € pro Einwohner*in, NRW liege bei 380 € pro Kopf.

Die Steuereinnahmen pro Einwohner*in sind regional unterschiedlich verteilt. Sie reichen von 781 € (Altenburger Land bis zu 4.584 € (Frankfurt/M). Nordrhein-Westfälischer Spitzenreiter bei den Gewerbesteuereinnahmen ist die „Steueroase“ Monheim/Rhein mit 3.850 € pro Einwohner*in. Zum Vergleich: im Kreis Viersen waren es 765 € pro Einwohner*in (6).

Über die Hälfte der kommunalen Steuereinnahmen besteht aus der Gewerbesteuer. Vor der Globalisierung konzentrierte sich der traditionelle Standortwettbewerb vorwiegend auf die Auseinandersetzung zwischen jeweils benachbarten Gebietskörperschaften. Im sog. modernen -ökonomisch orientierten - Standortwettbewerb gibt es stets irgendwo auf der Welt Gewinner und Verlierer. „Wenn sich jede Stadt und jede Region mit jeder anderen Stadt bzw. Region im Wettbewerb sieht, stellt sich für die jeweils zuständigen politischen Akteure die Frage, ‚wie man im Standortwettbewerb dasteht‘“. (7)

Von Tilburg & Co lernen?

Während es auf deutscher Seite im Wettbewerb auch immer wieder um eigene Verbrauchs- und Aufwandssteuern oder um Hebesetze für Grund- und Gewerbesteuer geht, fließt in den Niederlanden der größte Teil der kommunalen Einnahmen über den zentralstaatlichen Gemeentefonds. Daher geht es den niederländischen Kommunen eher um einen Wettbewerb der Ideen und um effektive Partnerschaften als um den Kampf um steuerkräftige Unternehmen und Einwohner*innen. Allerdings wurde landesweit in den letzten Jahrzehnten die Anzahl der niederländischen Kommunen von etwa 1000 auf 365 deutlich reduziert. (8) (9) Kommunale und regionale Planung in den Niederlanden ist – anders als auf deutscher Seite - eher eine Angelegenheit von thematisch orientierten Netzwerken und Diskurskoalitionen, die verhandeln und sich gegenseitig beraten. (10)

Die grundlegenden Strukturen der deutschen Verwaltung, wie die Trennung zwischen Politik und Verwaltung, die Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern sowie die Haushalts- und Vergaberechtsbestimmungen passen nicht so ganz zu den niederländischen Diskurskoalitionen.

So hängen die politischen Sichtweisen im deutsch-niederländischen Grenzland auch von den jeweiligen Staats- und Verwaltungsstrukturen ab. Eine Diskussion zwischen deutschem demokratischem Zentralismus und deutscher kommunaler Selbstverwaltung gibt es seit dem 3. Oktober 1990 nicht mehr.

Die Verfassung der Niederlande hat eine viel längere demokratische Tradition als die der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung. Die niederländische beruht auf Dezentralisierung, Provinzen und Pluralismus. Die lokale Selbstverwaltung der Gemeinden spielt eine bedeutende Rolle in den traditionell wirtschaftsliberal ausgerichteten Niederlanden.

Nicht zufällig wurde das »Tilburger Modell«  zum Vorbild der Reformen im Rahmen des neuen Steuerungsmodells (NSM) des deutschen öffentlichen Diensts und besonders in den Kommunalverwaltungen nach der deutschen Einheit: 

  • Wechsel von der kameralistischen zur kaufmännischen Buchführung, 
  • von der hierarchischen Ämterstruktur zu einer Konzernstruktur mit dezentraler Ressourcenverantwortung, 
  • Kunden- statt Bürgerorientierung, 
  • Einführung von Output-Steuerung und Kontraktmanagement zwischen Politik und Verwaltung...

Derartige Reformansätze führten in den 1990er Jahren zu absurden Diskussionen innerhalb der Verwaltungen, zu erheblichen Kosten für Gutachten, externe Beratungen, Schulungen, Umstellungen der sich gerade erst im „kameralistischen Aufbau“ befindlichen IT-Systeme oder zu absurden Bilanzierungen beim betriebswirtschaftlichen Vermögen einer Kommune.

Wie bewertet man eine kommunale Infrastruktur aus Kanalisationssystem, Straßen, Bäumen und Bächen? Welche Relevanz und welchen Marktpreis hat sie für mögliche Verkäufe? Steht ihr Buchwert in einem betriebswirtschaftlich erklärbaren Verhältnis zu ihrem Nutzen? Können historische Gebäude oder Kirchen kostentechnisch so abgebildet werden, als seien sie die Produktionsmittel eines Logistik-Unternehmens? Wie schreibt man ein mittelalterliches Rathaus ab, wenn sein Wert nicht sinkt, sondern durch Alter und historische Bedeutung steigt? Gilt es dann als Investitionsgut? Aus betriebswirtschaftlicher Sicht wird Boden nicht abgeschrieben, weil er sich angeblich nicht abnutzen kann. Gilt das auch für die mit ihm verbundenen Straßen oder für die in ihm ruhenden Altlasten? 

NSM und das Tilburger Modell widersprachen diametral der vom bedeutenden deutschen Soziologen Max Weber  (1864 - 1920) ausführlich beschriebenen Struktur des Idealtypus einer rationalen Bürokratie mit 

  • transparenter Hierarchie, 
  • klaren Regeln und Vorschriften, 
  • mit einer professionellen Legitimation durch Kompetenz, 
  • mit nachvollziehbarer Dokumentation 
  • und einer strengen Trennung von Amt und Person.

Daher verwundert es nicht, wenn NSM und Tilburger Modell in Deutschland letztendlich am Artikel 33 des Grundgesetzes scheiterten, der das deutsche Beamtenrecht absichert. (11)

Die NSM-Reform verlangte ein massives Umdenken bei den Mitarbeiter*innen und der Führungsebene. Das traditionelle, hierarchische und stark vom Recht geprägte deutsche Verwaltungsmodell stand im Gegensatz zu der geforderten Service- und Ergebnisorientierung. Daher entstanden Akzeptanzproblemen und Widerstand innerhalb der Verwaltungen. Die flexible Personalpolitik mit Fluktuation und leistungsbezogenen Anreizen der Stadt Tilburg vertrug sich überhaupt nicht mit dem Lebenszeitprinzip des Berufsbeamtentums, das von klarer Hierarchie und Gehorsamspflicht geprägt ist. 

Die im Tilburger Modell und im NSM geforderte unternehmerische Denkweise kollidierte mit den berühmt-berüchtigten „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ (11). Ansätze einzelner besonders reformfreudiger Städte und Gemeinden im Kreis Viersen fanden schnell ihre Grenzen an der eher traditionell orientierten Kreisverwaltung. Am Ende bremsten die Kassen- und Rechnungsprüfungen die Reform aus. Den hohen mit dem NSM verbundenen Ausgaben standen keine nennenswerten Einsparungen gegenüber.

So blieb nicht viel mehr übrig als die Umstellung der Buchführung und die vermeintlich kundenorientierten Bürgeranlaufstellen. Die grundlegenden Strukturen der deutschen Verwaltung, wie die Trennung zwischen Politik und Verwaltung, die Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern sowie die Haushalts- und Vergaberechtsbestimmungen, sind bis heute nicht auf die privatwirtschaftlich inspirierten Reformansätze des Tilburger Modells ausgelegt. Zwar wurden einige Gesetze – zum Beispiel im Haushaltsrecht - angepasst, aber eine vollständige rechtliche Transformation, die das gesamte Modell ermöglicht hätte, fand nicht statt.

Verwaltungsintern gibt es heute noch so etwas wie Jahresgespräche zur Personalentwicklung,  leistungsorientierte Bezahlung oder ein sog. Qualitätsmanagement. Das alles wird eher weisungsgebunden nach hergebrachten Grundsätzen der Verwaltung abgewickelt. Der Sinn und die ursprünglichen Annahmen werden kaum hinterfragt. Max Webers Bild der bürokratischen Herrschaft als ein unentrinnbares und stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit (12) war stärker als die Menschen von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) (13), der Bertelsmann-Stiftung (14) (15) und ähnlicher Beratungsunternehmen, die versuchten, die kommunalen Entscheidungsträger*innen davon zu überzeugen, dass eine Verwaltung mit betriebswirtschaftlichen, aus der Privatwirtschaft übernommenen Managementmethoden effizienter geführt werden kann, indem sie eine mit demokratischen Rechten versehene Bürgerschaft auf eine Kundschaft im Markt verwaltungsrechtlicher Dienstleistungen degradierte.

Buchhalterfiktionen und Sanierungsstaus

Kommunen und öffentliche Einrichtungen haben ein grundlegend anderes „Geschäftsmodell“. Das Denken in Märkten, Kunden und Gewinnen passt nicht dazu. Der Fokus auf den betriebswirtschaftlichen Buchwert kann zudem die Haushaltslage einer Kommune verzerren. Eine hohe Abschreibung auf das umfangreiche kommunale Vermögen kann dazu führen, dass ein Haushalt scheinbar ein Defizit aufweist, obwohl er tatsächlich alle laufenden Kosten deckt.

Das kann passieren, wenn eine Kämmerei die Abschreibungen als fiktive Ausgaben verbucht. Denen stehen jedoch keine realen Geldausgaben gegenüber. Und das wiederum kann zu einer falschen Wahrnehmung der kommunalen Haushaltssituation durch die Öffentlichkeit und die Politik führen. Die Erfassung, Bewertung und laufende Pflege des gesamten Anlagevermögens ist ein enormer bürokratischer Aufwand und verursacht hohe Personalkosten. Der Nutzen dieser aufwändigen Inventur ist jedoch fraglich.

Welche operativen oder strategischen Entscheidungen werden in den Verwaltungen durch die kaufmännisch orientierte Buchführung eigentlich erleichtert? Fokussiert sich die vermeintlich moderne Kommunalverwaltung noch auf die geeigneten Kennzahlen oder unterliegt sie einer Buchhalterfiktion? Gehören Sanierungsstaus und bröckelnde Brücken nicht zu den konkreten physischen Folgen der kommunalen Buchhalterfiktion? Welche Spielräume haben die Kämmereien bei den bilanziellen Defiziten selbst dann, wenn ihre Kassen „noch gut gefüllt“ sind? Welchen politischen Druck können sie damit erzeugen? Ist es für Politiker*innen und Bürgermeister*innen, die die Bilanzen nicht kritisch lesen können, dann nicht naheliegend, bei den realen, liquiditätswirksamen Ausgaben zu kürzen, die nicht sofort sichtbare negative Folgen haben?

Instandhaltung und Sanierung bieten vermeintlich ideale Sparziele, da die Verschlechterung einer Brücke oder eines Schulgebäudes nicht von heute auf morgen eintritt. Indem diese Ausgaben gekürzt werden, verbessert sich das kurzfristige Cash-Flow-Ergebnis. So lassen "Ausgaben" einsparen, zumindest scheinbar....

Vielleicht sind die vermeintliche Verwaltungsmodernisierung und die betriebswirtschaftliche Logik eine Ursache für die zunehmende Verrottung unserer infrastrukturellen Substanz, Unternehmen wechseln in solchen Situationen den Standort oder gehen in die Insolvenz. Die Kommune kann das nicht. Im Gegenteil: wenn Unternehmen ihrer betriebswirtschaftlichen Logik folgen, fallen die Arbeitsplätze und die Gewerbesteuer für die Kommune weg und sie müssen mit „realem Steuergeld“ die unternehmerischen Altlasten und Umweltschäden wieder sanieren.

Kurzum: Auf lange Sicht sind die Kommunalverwaltungen die Geschädigten eines betriebswirtschaftlich orientierten Denkens, das externe Umwelt- und Sozialkosten ignoriert oder bewusst auslagert. Kommunen sind ortsgebunden. Unternehmen sind mobil. Bilanziell als externe Effekte ausgelagerte Unternehmenskosten können daher schnell zu handfesten finanziellen Verpflichtungen der Kommunen werden.

Die Einführung des Neuen Steuerungsmodells (NSM) und der Doppik (16) hat die grundlegenden Regeln des Spiels nicht verändert: Die Kommune bleibt die dauerhafte Ansprechpartnerin für alle Probleme, die durch das Denken in unternehmerischen und betriebswirtschaftlichen Kategorien entstehen. Die "Buchhalterfiktionen" der Doppik (z.B. Abschreibungen) können die tatsächlichen kommunalen Sanierungsbedarfe maskieren. Zudem kann das betriebswirtschaftlich orientierte Handeln von Unternehmen die finanziellen Grundlagen einer Kommune zerstören, ohne das rechtliche Ansprüche geltend gemacht werden können.


Leere Wahlversprechen und die Entfesselung des Kommunalen Geldes

Wer im derzeitigen NRW-Kommunalwahlkampf Versprechungen abgibt oder Verbesserungen in Aussicht stellt, dem fehlt häufig die realistische finanzielle Deckung. Die Wählerinnen und Wähler merken schnell, dass die vollmundigen Wahlversprechen unternehmerisch orientierter Rats- und Bürgermeisterkandidaturen ins Leere laufen können.

Eine Kommune, die nach dem Motto „Global denken, lokal handeln“ nachhaltig werden und ihren Bürgerinnen und Bürgern ein sicheres Leben in grünem Wohlstand garantieren möchte, bräuchte keine Fördermittelmanager. Sie müsste sich von den herkömmlichen Finanzierungsmodellen lösen und sie radikal neu ausrichten können. Um sich endlich aus den Fesseln kommunalen Bettelwirtschaft zu befreien, bräuchte es andere Fiskalbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen.

Wer bestellt, bezahlt: Wenn Bund oder Länder den Kommunen Aufgaben zur Umsetzung politischer Ziele übertragen wollen, müssen sie den Kommunen einen angemessenen Anteil des auf ihrem Boden entstanden BIP zurückgeben und strukturell und verlässlich finanzieren.

Es würde auch praktischen Bürokratieabbau bedeuten, wenn die Projekteritis und das Berichtsunwesen eingedämmt werden könnten, wenn zweckgebundene Pauschalmittel verlässlich gezahlt statt unzählige Einzelanträge gestellt werden.

Kommunen müssten selbst viel größere Möglichkeiten erhalten, Unternehmen und Bürger*innen in Richtung Nachhaltigkeit zu lenken - mit eigenen Steuern und Abgaben, mit im Rat festgelegten Verboten und Geboten. Denn es schafft eine direkte Kausalität zwischen Kosten und Nutzen, wenn eine kommunale CO2-Abgabe unmittelbar in den Ausbau der Radwege oder des öffentlichen Nahverkehrs oder in Gebäudesanierung vor Ort fließt.

Wenn Kommunen eine wertebasierte, an der tatsächlichen Nutzung orientierte Bodensteuer erheben würden, könnten sie vor Ort Bodenspekulationen eindämmen und Anreize zur Entsiegelung und Renaturierung schaffen. Sie könnten Einnahmen aus dem Parken im öffentlichen Raum zum Aufbau eigener Sharing-Angebote nutzen.

Oder sie könnten für ihre Bürger*innen Schuldverschreibungen als kommunale Green Bonds für nachhaltige Projekte ausgeben, Genossenschaften für erneuerbare Energie, gesunde Ernährung und zukunftsträchtige Renaturierung gründen…

Doch dazu muss sich das finanzielle Denken auf allen Ebenen von der Kostenminimierung lösen. Investitionen in Nachhaltigkeit sind langfristige Kapitalanlagen für die Zukunft des sozialen Zusammenhalts und der Lebensqualität „vor Ort“. Rendite wird nicht Euros, sondern in Frieden und Wohlbefinden gemessen. Der seit über 200 Jahren weltweit stattfindende wirtschaftliche Kauf von Zeit neigt sich dann dem Ende zu, wenn die Schäden dieses Vorgangs unübersehbar werden. (17)

Sind die Bürgermeisterkandidaten und -kandidatinnen mit den kommunalen Herausforderungen, mit den rechtlichen Rahmenbedingungen und der Komplexität der Verwaltung vertraut? Spielen auch sie zu Lasten der jetzigen Kinder auf Zeit? Werden sie nach ihrer Wahl versuchen, „seinen“ oder „ihren“ Verwaltungsapparat betriebswirtschaftlich zu ideologisieren oder feudalistisch zu personalisieren? Mit welchem Vertrauen können sie bei den Verwaltungsmitarbeiter*innen rechnen? Wie könnte ihr kommunales Fazit im Bilanz- und Wahljahr 2030 aussehen? 

Es liegt in der Verantwortung der Wählerinnen und Wähler, eine kluge Entscheidung zu treffen und sich nicht von social media – Fassaden oder Festzeltauftritten blenden zu lassen.

Die kommunalen Nachhaltigkeitsversprechen 2025 – 2030 sollten nicht erneut in Masterplänen, im Wettbewerb um Fördermittel oder im Lechzen nach einer renditestarken Public-Private Partnership mit cross-border-leasing (18) und ähnlichem Unsinn versanden. Denn Unternehmensmacht ist derzeit viel zu selten  ein Gut, das man gemeinnützig teilen kann. Noch liegt sie eher in einem  Nebel, der sich bei jeder Berührung verdichtet. 

Die neu gewählten Bürgermeister*innen könnten als Ausweg einen Antrag auf Freistellung von den absurden Pflichten des marktorientierten Lebens stellen. Dessen Bearbeitung würde wohl mindestens fünf Jahre dauern, denn noch gibt es keine geeignete Rechtsgrundlage…

Hinweise und Verweise

1. Statistisches Bundesamt. Bruttoinlandsprodukt (BIP). [Online] 30. Juli 2025. https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlandsprodukt/Tabellen/bip-bubbles.html

2. Statistisches Bundesamt. Kommunen verzeichnen im Jahr 2024 Rekorddefizit von 24,8 Milliarden Euro. [Online] 1. April 2025. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/04/PD25_126_71137.html

3. Bertelsmann-Stiftung. Kommunaler Finanzreport 2025. Knappe Kassen, große Aufgaben. [Online] Juli 2025. https://difu.de/sites/default/files/media_files/publikationen/Kommunaler-Finanzreport-2025.pdf

4. Heinrich Böll Stiftung. KommunalWiki: Kommunaler Finanzausgleich. [Online] 2015. https://kommunalwiki.boell.de/index.php/Kommunaler_Finanzausgleich

5. Heinrich Böll Stiftung. KommunalWiki: Kassenkedite. [Online] https://kommunalwiki.boell.de/index.php/Kassenkredite

6. Industrie- und Handelskammer Mittlerer Niederrhein. Steuerkraft 2024. [Online] [abgerufen am 31. Juli 2025] https://mittlerer-niederrhein.ihk.de/de/wirtschaftsstandort/statistiken-zum-mittleren-niederrhein2/steuerkraft.html

7. Kauffmann, Albrecht; Rosenfeld, Martin T.W. (Hg.) Städte und Regionen im Standortwettbewerb. Neue Tendenzen, Auswirkungen und Folgerungen für die Politik. Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL). [Online] 2012. https://www.arl-net.de/system/files/media-shop/pdf/fus/fus_238.pdf

8. Central Bureau voor de Statistik. Overheid levert grootste bijdrage aan economische groei in 2024. [Online] 2. Juli 2025. https://www.cbs.nl/nl-nl/nieuws/2025/27/overheid-levert-grootste-bijdrage-aan-economische-groei-in-2024

9. Government of the Netherlands. Spatial Planning in The Netherlands. [Online] [abgerufen am 4. August 2025] https://www.government.nl/topics/spatial-planning-and-infrastructure/spatial-planning-in-the-netherlands

10. Coen Keijzer, Annet Kempenaar, Margo van den Brink und Britta Restemeyer. The quest for spatial quality in Dutch national planning between the1980s and 2020s. Planning Perspectives. [Online] 27. Juli 2025. https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/02665433.2025.2534029?needAccess=true

11.»Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. [...] Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln.«

12. vgl. Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1980. 978-3-16-147749-2

13. Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt). [Online] https://www.kgst.de/

14. BertelsmannStiftung. [Online] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/startseite

15. BertelsmannKritik. Information.Kritik.Aktion. [Online] http://www.bertelsmannkritik.de/index.htm

16. Heinrich Böll Stiftung. KommunalWiki: Doppik. [Online] https://kommunalwiki.boell.de/index.php/Doppik

17. Wolfgang Streeck. Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des Kapitalismus. Frankfurter Adorno Vorlesungen 2012. Berlin. Suhrkamp, 2013. 978-3-518-58592-4

18. Helmut Dedy. Cross-Border-Leasing. Ein Weg mit Risiken. Deutscher Städte- und Gemeindebund (DstGB). [Online] November 2003. https://www.dstgb.de/publikationen/dokumentationen/dstgb-dokumentationen-nr-1-50/nr-34-cross-border-leasing-ein-weg-mit-risiken/doku34.pdf?cid=6ne

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